Im Wartezimmer

von Annette Schwindt

Die kleine alte Frau nimmt auf einem der Plastikschalensitze gegenüber dem Aquarium Platz, die Knie fest zusammengepresst. Nachdem sie den Guppies eine Weile zugesehen hat, nimmt sie sich eine Zeitschrift und beginnt zu lesen: Charles und Camilla – welche Opfer sie bringen.

Die Tür öffnet sich und eine große dicke Frau mit Kopftuch und viel zu enger Jacke kommt herein, geht auf die kleine Frau zu: „Ach Goott!“

„Oh! Sind sie auch hierrr?“ Die Stimme der Kleinen klingt wie eine Schreddermaschine.
„Drei Beerdischunge!“, ruft die Dicke fassungslos und lässt sich keuchend auf den Sitz neben der Kleinen fallen.
„Ach Goott!“, seufzt die nun auch.

Schweigen

„Geschdan issa noch zu de Dande mit’m Kuche…“, meint die Dicke betroffen. „Unn dann liegtse äfach dood im Bett!“
Man stelle sich vor!

„Ach Goott!“, nimmt die Kleine Anteil.
„Die Fraa Müller und die Fraa Seidel. Dreiäneinzisch!“
Die Kleine nickt zustimmend. „Jaja, die war weit iieber neinzich.“

„Ma weeses jo noch net, gell.“
„Was denn?“
„Ah, ob se dood is. Isch hab’s bloß gheert.“
„Aberrr wennse doch tot in Bett gelegen hat?“
„Mit’m Kuche zu de Dande…“

Schweigen

„Gesterrrn kam unser Klaus mit Salatsetzlingen, aberrr es ist doch noch viel zu kalt.“
„Ah, saukald do, heär!“
„Jaja.“
„Doo, de Schdäähauer, doo fer die Gräwer, der is nach Wien gfahre odda gflooge. Unn jetz kummta ärscht widda am Fünfezwanzigschde.“
„Viel zu kalt!“
„Isch habbäre aa gsaat: Des hot dann kään Wert mit dänne Blumme. Die verreckere jo!“
„Jaja.“

Schweigen

Umständlich nestelt die Dicke ihr Plastikkopftuch vom Stoffkopftuch darunter. Die Knöpfe ihrer Jacke halten tapfer durch.

„Unn? Issa in de Schuul?“
„Jaja.“
„De Klääne…“
„Eine Stunde späterrr heite.“
„Ja?“
„Ja… Heite hat ärr Sexual-itätsunterricht!“, kichert die Kleine.

Die Dicke schwitzt.

„Sexual-ität! Stellen sie sich das mal vorrr!“, lacht sie verlegen. „Dabei ist ärr doch errrst nein Jahrrre alt!“
Die Dicke schüttelt ungläubig den Kopf.
„Nein Jahrrre! Därrr värrrstäht das doch garrr nicht!“

„Heimat Sudeteland! Se hänn halt net so gewisst, ob se des dann do druff schreiwe solle.“
„No machense doch so auf die Grrräberrr.“
„Awwa so do mit Berge, doohalt ä paar Schdrisch, doo so wie uff dem funn dem Ehepaar ausem Erzgebirge do hinne bei de alde Fraa Schmitt.“
„Issärrr noch lange in Minchen?“
„Wien.“
„Oh!“
„Bissam Fünfezwanzigschde.“
„No, missense halt warrrten, nich?“

„Isch habse joo noch bsuucht.“
„Ist sie worrrden operrrierrrt?“
„Hajo, driwwe.“
„No, ist därrr Härrr Pfarrrärrr auch gekommen?“
„Hajoo, gfroocht hoterse, obse beischde will.“
„Dreiundachtzig Leite hatärrr eingeladen auf sein Geburrrtstag!“
„No hotse gsaad: Isch bin schunn ä halwes Johr krank, isch hab kää Sünd.“

Beide kichern

„Warrr sie operrrierrrt?“
„Sinn awwa bloß fünfesiebzisch kumme. Fünfesiebzisch! Soviel hotta nätemol in de Käärsch!“
„Hatärrr ihrrr was mitgebracht?“
„Nä.“
„No, hatse ihm was gegeben?“
„Ha, nää! Isch habare aa gsaad: Doo, hättschem wenigschdens zwanzisch Mark gewwe, wanna schunn extra doher kummt!“
„Heite brauchense das nich mehr… Heite beichtetma nich mehr.“
„Isch hab aa gsaad: Doo, Obschd hawwisch da gebrocht.“
„No issie tot…“

„Ma weeses net.“

Die Sprechstundenhilfe ruft die Dicke zur Behandlung.
Die Kleine bleibt allein sitzen, zieht den Rock über die zusammengepressten Knie und murmelt fassungslos: „Nein Jahrrre…“

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