Der Riese

von Annette Schwindt

Der Riese steht an meinem Bett und lächelt. Er ist ein gutmütiger, nachdenklicher Riese, der mich beschützt. Wenn ich überlege, ob ich mir das nur einbilde, wird er ärgerlich und schüttelt energisch den Kopf: Nein! Ich bin da!

Er war schon bei mir, da war er noch gar nicht gegangen. Mach Dir keine Sorgen um mich. Mit mir ist alles klar. Um die anderen soll ich mich kümmern. Um die, die gar nicht damit klar kommen, dass der Riese immer weniger wird. Denn das passt nicht zusammen. Es passt einfach nicht, dass der Kerl, der eben noch allein eine Doppelbettmatratze wie eine Feder durchs Treppenhaus getragen hat, jetzt allmählich zusammenschrumpft und verschwindet.

Und er weiß es. Er weiß es schon lange und spricht auch offen darüber.
„Schöne Scheiße“ ist alles, was die anderen dazu sagen können. Und dann versinken sie wieder in Schweigen oder im nächsten Bier.

Er kommt uns noch ein paar Mal besuchen. Der Bär ist auch dabei. Und dann reden sie von früher, von den Abenteuern, die sie zusammen erlebt haben. Von den Reisen und den Dingen, die sich der Riese noch vorgenommen hat. Das Haus muss fertig werden. Da gibt es noch so viel zu tun. Aber jetzt ist der Riese manchmal schon zu schwach und das wurmt ihn. Auch wenn der Bär das für ihn machen kann. Und manchmal verliert der Riese die Geduld, weil er keine Zeit mehr hat. Dann sind die anderen nicht schnell genug. Die, die noch so viel Zeit haben, ohne zu erkennen, wieviel Glück sie haben.

Der Riese schaut inzwischen genau hin. Er wägt jetzt ab, mit wem er sein letztes bisschen Zeit verbringt. Und das sind nicht mehr viele. Es sind nur die, die zuhören. Weil sie ihm nahe stehen oder weil sie schon ähnliches erlebt haben. Denen kann er sagen, was er denkt. Wie es sich anfühlt, keine Zeit mehr zu haben.

Dann kommt er uns ein letztes Mal besuchen. Allein, ohne den Bären. Und wir wissen, er will Auf Wiedersehen sagen. Also hören wir zu, schweigen ein letztes Mal zusammen und lachen ein letztes Mal zusammen, essen miteinander und dann geht er. Ich komme noch mit zur Tür wie ich es immer mache und er bleibt nochmal stehen, schaut mich an und wir umarmen uns. Ich versuche ihm Kraft zu schicken und er versteht. Dann ist er fort…

Ich bin nicht fort!, sagt der Riese und grinst. Der Bär arbeitet immer noch am Haus und der Riese schaut zu, was er da macht.
Das passt nicht!

„Das passt!“, freut sich der Bär über die gelungene Arbeit und macht weiter. Er kann den Riesen spüren auch wenn er es vielleicht gar nicht weiß.

Und ich spüre ihn auch. Schau hin, mit wem Du Deine Zeit verbringst!, sagt er, und dann weiß ich, dass ich Glück habe. Weil ich noch da bin und diese Zeit nutzen kann. Und weil der Riese da ist und mich beschützt.

 

Für den Bären, für Thomas und alle, die zuhören.
Vom Riesen und von Nette
Bonn, Mai 2006

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