Das gute Leben

(Dieser Text war bereits früher schon einmal in diesem Blog erschienen, wurde dann aber gelöscht, und wird hiermit unter seinem alten Datum wiederbelebt.)

Eins der ersten Bilder, die ich von Kai nach seinem Schlaganfall gesehen habe, war ein Foto aus der Reha, auf dem er etwas verhalten in die Kamera lächelt. Er trägt ein leuchtend blaues T-Shirt. Erschöpft sieht er aus, aber er lächelt. Damals kannte ich ihn noch nicht und es war auch nicht absehbar, dass wir uns jemals begegnen würden. Inzwischen weiß ich: Selbst wenn es mal an einem Tag nicht gut für ihn läuft mit all den Therapien, wenn der „Nebel“ ihn wieder einholt, wie er das nennt, zwingt er sich zu einem Lächeln und sagt: „Morgen ist wieder gut.“

Nicht nur da sind er und Thomas sich sehr ähnlich. Beide sind unverbesserliche Optimisten, beide leben im Hier und Jetzt. Dass sie sich mal so gut verstehen würden, hätte ich nicht gedacht. „Thomas ist ne coole Socke“, sagt Kai anerkennend. „Es ist einfach schöner, wenn Kai da ist“, sagt Thomas.

Für gewöhnlich fangen unsere Zeiten zu dritt an einem Donnerstagabend an. Thomas und ich fahren zum Bahnhof, wo wir Kai in Empfang nehmen. Der freut sich schon auf unser traditionelles Abendessen in unserer Stammkneipe. Vielleicht gibt es heute sogar Live-Jazz dazu? Dort angekommen flirtet er mit der Kellnerin und wir lachen und flachsen bis die letzte Bratkartoffel verspeist und das letzte Solo verklungen ist.

Zuhause machen wir es uns dann gemütlich, Kai sorgt für die passende Musik. Noch ein guter Single Malt und – fuck you Aphasie! – lange Gespräche über Gott und die Welt bis uns die Augen zufallen. „Muss ins Bett“, murmelt Kai und umarmt mich zur guten Nacht.

Am nächsten Morgen wache ich auf. Leise Musik dringt vom anderen Ende der Wohnung herüber, und ich höre die beiden, wie sie sich unterhalten und mir wird ganz weh vor Glück.

Ich gehe zu ihnen rüber. Kai hat es sich im Halbdunkel auf dem Sofa gemütlich gemacht und spielt auf seinem Smartphone, während Thomas erst mal ins Bad verschwindet. Ich ziehe die Rollos hoch, wuschle Kai durchs zerzauste Haar, während er darüber flucht, dass ihm doch nur noch der eine Spielzug gefehlt hat, um das aktuelle Level zu gewinnen. Das muss er jetzt noch hinkriegen. „Sorry“, grinst er. „Verstehst du doch?“ Also gehe ich weiter in die Küche, um für die beiden Kaffee und mir einen Tee zu kochen und was zum Essen zuzubereiten.

Mitten in meinem Vorbereitungen ertönt ein triumphierendes „YESSSSSS!“ aus dem Wohnzimmer und kurz danach erscheint ein strahlender Kai am Esstisch und beginnt ein Gespräch mit mir. Noch einen Orangensaft für alle einschenken, Kaffee und Tee sind fertig, meine Waffeln getoastet, das Müsli für Thomas bereit. Jetzt noch Toast buttern und was Kai sonst mit einer Hand nicht allein kann, dann frühstücken wir.

Heute haben wir keine konkreten Pläne und das Wetter ist sowieso nicht so toll. Also lümmeln wir stundenlang herum, hören noch mehr Musik und vergießen dabei die ein oder andere Rührungsträne, wenn uns ein Lied an unsere Kindheit oder Jugend erinnert, andere Lieder singen wir aus vollem Halse mit. Singen fällt Kai leichter als Reden. Aber auch so erzählen wir uns Schwänke aus unserem Leben, bingewatchen Big Bang Theory auf Netflix (There, there!) oder schwelgen via DVD in einem Live-Konzert von Reinhard Mey.

Jetzt kommt doch die Sonne raus, also zuckeln wir nacheinander ins Bad und machen uns ausgehfertig. Inzwischen schleppt Kai längst nicht mehr alle Klamotten auf seinen Zugfahrten hin und her. Je öfter er da ist, umso mehr bleibt hier und wartet auf seine nächste Zeit bei uns. Längst steht seine Zahnbürste im Bad neben unseren, längst hat er sein eigenes Schrankfach und sein Name ist an der Tür und auf dem Briefkasten zu lesen.

Als wir angezogen sind, machen wir uns auf den Weg, die Rheinpromenade rauf oder runter. Je nachdem, ob wir zum Italiener oder in den Biergarten wollen. Manchmal treffen wir dabei Bekannte, manchmal gehen wir auch einfach nur spazieren, setzen uns auf eine Bank, schauen aufs Wasser und hängen unseren Gedanken nach oder ich lese Kai was vor. Manchmal fahren wir auch mit dem Boot oder mit dem Auto rüber in die Innenstadt, um uns was vom Japaner zu gönnen. Manchmal unternehmen Kai und Thomas auch etwas allein, gehen einkaufen oder sonst was erledigen.

Zurück zuhause machen wir es uns wieder gemütlich, hören noch mehr Musik, schauen einen Film, machen Logopädie-Aufgaben oder jeder beschäftigt sich für sich selbst. Thomas liest noch was für seine Arbeit oder den Mediatorenverein, ich kümmere mich um mein Blog oder chatte mit Freunden, Kai döst, surft auf Facebook oder spielt das nächste Level.

Gegen Abend wird dann zusammen gekocht, gegessen und gelacht bis wir uns wieder in Musik und Gespräche vertiefen und schließlich schlafen gehen.

Irgendwann muss Kai wieder zu seinen Therapien zurück und die Kinder und die Wednesday Boys fehlen ihm doch auch. Thomas bringt ihn zum Zug und ich bleibe allein hier. Verkneife mir Gefühlsausbrüche bis Thomas wiederkommt und mit einem leisen „Wir sind doch Familie“ meine Beherrschung zerplatzen lässt.

Am nächsten Morgen muss Thomas zurück ins Büro. Als ich aufwache, kommt keine Musik vom anderen Ende der Wohnung. Alles ist still…

Traurig stehe ich auf und schlurfe unwillig ins Bad. Ich mag nicht allein sein. Alles doof!

Ich muss mich ablenken. Also erst mal Ordnung machen und vielleicht Wäsche waschen. Kais und Thomas‘ „Ministry of silly walks“-Shirts sind auch dabei und bringen mich zum Lächeln. Als die erste Maschine durchgelaufen ist, hab ich überall aufgeräumt. Ich fange an, die Wäsche aufzuhängen und wieder überkommt mich eine Welle der Traurigkeit. Ich vermisse unsere gemeinsame Zeit…

Da blitzt etwas Blaues aus dem frisch gewaschenen Kuddelmuddel im Wäschekorb hervor. Als ich es herauszeihe, piept mein Messenger: „Skype?“
„Komme“, tippe ich zurück und schaue auf das Shirt in meiner Hand. Es ist das von Kai aus der Reha. Darauf steht:

„Today, life is good!“


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