Diversity – Ein Bloggespräch mit Birgit Nüchter

Schon länger habe ich jemanden gesucht, mit dem ich mich über das Thema Diversität/Diversity unterhalten könnte. Bereits zwei Versuche mit anderen Gesprächspartnern mussten abgebrochen werden (ja, auch das passiert hin und wieder aus den verschiedensten Gründen). Umso froher bin ich, dass meine heutige Gesprächspartnerin, die mir selbst von jemand anderem via Twitter vorgeschlagen wurde, das Thema angesprochen hat. Wir hatten vorher noch nie miteinander zu tun, lernen uns also auf diesem Wege auch erst kennen. 

Annette Schwindt

Hallo, Birgit! Wie spannend, ein Gespräch sozusagen auf Empfehlung hin zu beginnen! Normalerweise melden sich meine Gesprächspartner direkt bei mir und dem eigentlichen Bloggespräch geht zumindest ein kurzes Kennenlernen online voraus. Wir sind stattdessen gleich durchgestartet und das auch noch mit einem Monat Verspätung, weil ich diesmal so viele Meldungen bekommen hatte, dass ich den Überblick verloren hatte. Danke also zuerst mal für Deine Geduld! 

Du hast u.a. das Thema Diversity vorgeschlagen. Welchen Bezug hast Du zu diesem Thema?

Als Frau in einer Männerdomäne

Birgit Nüchter

Liebe Annette, danke für deine Bereitschaft mit einer Unbekannten direkt ins Bloggespräch einzutauchen. Ich freue mich auf den Austausch! 

Ich habe mich erst mit dem Thema Diversity beschäftigt, als ich auf mehreren Umwegen in der Software Entwicklung bei IBM gelandet war – eine ziemliche Männerdomäne, bis heute.  In unzähligen Besprechungen (egal ob intern oder mit Kunden) war ich die einzige Frau, dazu noch irgendwann auch die Chefin. Und dann noch Quereinsteigerin! Das war nicht immer einfach und hat manchen Kampf gekostet um anerkannt und respektiert zu werden. 

Das Thema Diversity hat mich dann auch lange in meiner Rolle als Führungskraft bei IBM begleitet. Wir haben uns viele Gedanken darüber gemacht, wie wir den Frauenanteil sowohl allgemein als auch in Führungspositionen anheben können. Dabei habe ich auch erlebt, wie nützlich es sein kann, wenn Erfolge tatsächlich gemessen werden. Chefinnen aus den USA waren auch hilfreich, denn die haben unerbittlich immer wieder nach den Frauen gefragt und waren Vorbilder. Allerdings war auch damals schon das Feld der Diversity weiter offen. 

Gerade in einer USA-zentrierten Firma gab es außerdem immer auch die Themen “People of Color, Asiatisch, Indigen, Behindert, Sexuelle Orientierung”. Manchmal hat sich da durchaus etwas in mir gesträubt, als Frau in diese Reihe eingeordnet zu werden. Heute denke ich, wir müssen auch in Europa die Diversity weiter fassen. Die Charta der Vielfalt hat dazu ein tolles Chart erstellt. 

Woran denkst du denn, wenn du das Wort Diversity hörst? 

Das Konstrukt des „Normalen“

Annette Schwindt

Oh, diesen Chart kannte ich noch nicht, der ist ja klasse!  Ich liebe ja Schaubilder und Listen aller Art, weil ich in Bildern denke. 

Woran denke ich, wenn ich Diversity höre? Zuerst an die Punkte, die mein Leben direkt betreffen: Neurodiversität, Geschlechteridentität und sexuelle Orientierung, körperliche und geistige Fähigkeiten, soziale und lokale Herkunft sowie Sprache und Kultur. Und neulich wurde ich noch auf das Thema Altersdiversität aufmerksam.

Dann denke ich an Inklusion und dass viele meinen, das sei nur das aktuell politisch korrekte Wort für Integration. Dass es also immer noch darum gehe, das als „anders“ Postulierte in das Konstrukt des „Normalen“ hineinzuholen. Dabei gibt es gar kein allgemein gültiges „Normal“. Das ist ja nur ein je nach Gruppe spezifischer Konsenswert, auf den man sich intern geeinigt hat. Geht man in eine andere Gruppe, wird dort vermutlich etwas ganz anderes als „normal“ angesehen.

Leider wird das Thema Diversity gerade von vielen als Buzzword benutzt, weil es zurzeit in ist. Da wird dann aber oft nur über „die anderen“ geredet, statt mit ihnen. Gerade beim Thema Autismus fällt mir das stark auf. Alle finden TV-Charaktere wie Sheldon in The Big Bang Theory lustig, aber wenn sie dann so jemanden im eigenen Leben begegnen, dann ist das nicht mehr lustig. Denn dann müsste man sich ja wirklich damit auseinandersetzen und das ist zu anstrengend. (Das ist mir schon genau so vorgehalten worden!) Stattdessen werden die alten Klischees ungeprüft weiterverbreitet und die Barrieren festzementiert.

Natürlich ist es eine Herausforderung, sich mit Neuem auseinanderzusetzen. Aber es ist doch vor allem spannend und bereichert einen! Und es macht nachgewiesenermaßen resilienter. Trotzdem trauen sich viele nicht, über den eigenen Tellerrand zu schauen. 

Warum hast Du Dich zu Anfang gesträubt als Frau zu „den anderen“ gezählt zu werden und was war bis dahin für Dich Diversität?

Diversity im Unternehmenskontext

Birgit Nüchter

Das ist spannend, dass du direkt den Bogen zur Inklusion spannst. Wenn wir nur über Diversity reden, passiert ja erst mal nichts. Ich bin vor einiger Zeit über das Zitat gestolpert “Diversity is being invited to the party; inclusion is being asked to dance” (Verna Myers). Auf den ersten Blick klingt das gut, auf den zweiten Blick ist der oder die “andere” aber auch wieder zur Passivität verdonnert, wartet darauf, zum Tanz aufgefordert zu werden. Das ist vergleichbar mit dem, was du oben schreibst: “wir reden über die anderen statt mit ihnen”. Das kann aber nicht die Lösung sein. Für mich ist es erst dann rund, wenn wir akzeptieren, dass wir alle unterschiedlich sind, dadurch unterschiedliche Blicke auf die Welt haben, unterschiedliche Stärken und Schwächen, und wir nicht versuchen, alle “gleich zu machen” und zu spekulieren, was für den anderen gut sein könnte. 

Und ja, in einem wirklich diversen Team kann es manchmal richtig anstrengend sein. Aber das bringt gerade auch im Unternehmenskontext echte Vorteile (Studien dazu gibt es einige, zum Beispiel https://www.mckinsey.de/news/presse/2020-05-19-diversity-wins#). Es leuchtet ja auch ein: wenn wir alle ähnlich ticken, finden wir schneller einen Konsens und als Führungskraft ist es für mich leichter solch ein scheinbar homogenes Team zu führen. Aber wer hat die unangenehmen Fragen gestellt, wer hat einen anderen Blick auf die Sache gehabt? Werden in der Diskussion ganze Gruppen übersehen (Stichwort Medizin: Medikamente werden hauptsächlich an männlichen, weissen Personen getestet)?

Aber ich will deine Frage noch beantworten, warum ich mich zunächst gesträubt habe in der Reihe mit den “anderen Minderheiten” als Frau aufzutauchen. Ich glaube, es waren 2 Dinge zum einen habe ich mich als Frau nicht in der Minderheit gefühlt. Im Job war ich es, aber doch nicht in der Realität. Ich habe biologische Realität und Unternehmensrealität nicht getrennt. Und dann spielte da sicherlich meine innere Überzeugung eine Rolle, dass gute Leistung immer belohnt wird. Ich habe dabei übersehen, dass gute Leistung zwar eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für den Karriereerfolg ist. Das musste ich erst durch schmerzhafte Erfahrung lernen. (Natürlich gelten ähnliche Argumente auch für fast alle anderen Minderheiten, aber das habe ich einfach ignoriert.) 

Du hast für mich einen neuen Begriff in den Raum geworfen, die Neurodiversität. Den kannte ich so noch nicht. Und in dem oben erwähnten Chart fehlt er auch komplett bzw. versteckt sich vermutlich unter körperliche und geistige Fähigkeiten, was aber in Richtung Behinderung geht. Was hälst du denn von solchen Initiativen wie dem Projekt “Autism at Work” bei SAP?

Resilienz statt Monokultur

Annette Schwindt

Da bin ich zwiegespalten. Einerseits ist es gut, wenn Menschen aus dem Autismusspektrum auf sie zugeschnittene Arbeitsbedingungen bekommen und wenn erkannt wird, dass es für Projekte auch Vorteile haben kann, wenn Menschen dabei sind, die „out of the box“ denken. Andererseits ist Autismus ein Spektrum, es gibt also nicht „den“ Autisten und schon gar nicht sind alle mathematisch oder sonstwie hochbegabt und wollen in Teams arbeiten. Es wäre schöner, wenn einfach jeder Mensch, egal ob autistisch oder nicht oder sonstwie verdrahtet einfach in seiner Individualität gefördert würde und so tätig sein könnte, wie es für sie/ihn am besten ist, statt zu versuchen, die Menschen mit Gewalt zu standardisieren.

Aber solange Einstellungen an Abschlüssen und standardisierten Tests hängen, wird damit ja schon in der Schule begonnen. Dort werden als Minderheiten titulierte Gruppen aussortiert: Sowohl körperbehinderte als auch lernbehinderte Kinder werden in eigene Institutionen ghettoisiert und Migranten- oder Arbeiterkinder haben schlechtere Chancen auf eine gute Bildung. Inklusion wird als Hemmschuh für die „Normalen“ angesehen, weil es wieder nur um Höchstleistung und nicht um ein gesundes Miteinander geht.

Auch bei den vermeintlich „Normalen“ wird wieder sortiert, wobei die am einen Ende dann auf Hartz 4 und die am anderen auf ein Akademikerdasein vorbereitet werden. Und der Rest dazwischen aufs Funktionieren und möglichst nicht Auffallen. Ein paar von letzteren schaffen vielleicht den Sprung zur zweiten Gruppe, der Rest hat Angst davor, in die erste zu geraten. Und alles, weil wir immer noch schier religiös an der industriell geprägten Erwerbsarbeit festhalten, als wäre eine andere Lebensweise der sichere Untergang. – Tja, wie es aussieht, führt uns die bisherige Lebensweise auf jeden Fall da hin… Wenn wir nicht jetzt die Kurve kriegen, dann war‘s das.

Dass Diversität gerade jetzt so in ist, kommt ja nicht von ungefähr. So langsam sollte sich herumsprechen, dass Vielfalt eine Gesellschaft resilienter macht als „Monokultur“. Das ist ja überall in der Natur so und der Mensch ist nunmal ein Teil von ihr, egal als wie überlegen er sich zu präsentieren versucht. (Ich lese dazu gerade viel bei Davide Brocchi)

Mich würde übrigens echt mal interessieren, wer überhaupt als statistisch normal durchgeht und wie viele das sind. In irgendeiner Hinsicht weicht doch jeder vom Mittelmaß ab und mal ehrlich: Will wirklich irgendjemand gern Mittelmaß sein? Wenn wir alle als „anders“ angesehenen Menschen mal zusammenzählen würden, wer wäre dann eigentlich in der Minderheit? Wäre überhaupt noch jemand übrig? 

Vorurteile erkennen und gegensteuern

Birgit Nüchter

Normalität – was ist das eigentlich? Wir, jeder einzelne Mensch von uns, definieren doch, was normal ist. Der Sozialkonstruktivismus (der schon aus den 60er Jahren stammt) versucht, aufzuzeigen, wie wir uns die Wirklichkeit konstruieren. Und da passt das weite Feld der Diversität gut dazu: wenn ich es oft genug sehe, wird es “normal”, dass eine Frau Straßenbahnen fährt, Flugzeuge fliegt, Soldatin ist, Chefin ist und so weiter. Wenn ich es oft genug sehe, werden gleichgeschlechtliche Paare und Patchworkfamilien jeglicher Art normal. Wenn es Teil meines Alltags ist, sind buntgemischte Teams (Alter, Geschlecht, Ethnische Herkunft, Hautfarbe, Kultur, sexuelle Orientierung, Religion, Neurodiversität, Behinderung) normal. Aber leider ist es oft nicht Teil meines Alltags. Wenn ich an meine Berufslaufbahn denke – die Teams waren sehr einheitlich: männlich, jung bis mittelalt, klassische Rollenverteilung in der Familie. Diversität sieht anders aus.

Und jetzt kommt, glaube ich, die Gesellschaft ins Spiel. Nochmal zurück zum Konstruktivismus. Es gibt nicht die Realität, ich mache mir meine Realität. Also machen wir uns alle zusammen unsere gesellschaftliche Realität und damit auch unsere Normen. Und leider verändern sich diese nur sehr langsam. Manchmal gibt es Ereignisse, die eine Katalysator-ähnliche Wirkung haben. Leider fallen mir da nur negative Dinge wie Krieg oder Pandemie ein. Aber vielleicht braucht es tatsächlich diese existenzbedrohenden Ereignisse um eine Beschleunigung in die Veränderung zu bringen. Statt Krieg und Pandemie wäre natürlich eine offene Haltung, ein bewusstes Hinsehen und Hinhören und auch ein sich selber immer wieder Hinterfragen (Stichwort Unbewusste Vorurteile)  weniger schmerzhaft. Aber leider auch anstrengend.

Wir alle haben “unbewusste Vorurteile” oder auf englisch “unconscious bias”. Oft sitzen diese sehr tief, haben mit Erziehung, Erlebnissen und unserer Kultur zu tun. Und diese Vorurteile steuern oft gegen die Diversity. Es erfordert ein hohes Maß an Disziplin um sich selber hier immer wieder auf die Schliche zu kommen. Achtest du bei Dir selber darauf? 

Sichtbarkeit schaffen

Annette Schwindt

Ich kenne das ehrlich gesagt nicht, weil ich von klein auf immer neugierig auf alles „andere“ war. Es sei denn, jemand verhält sich irgendwie aggressiv oder übergriffig, dann gehe ich natürlich auch auf Abstand. 

Was ich schlimm finde, ist, dass viele Gruppen, die als Minderheit von der sonstigen Gesellschaft unterschieden werden, dasselbe dann intern wiederholen. Damit schafft man dann ja wieder eine eigene Segregation, beschwert sich aber über die der Mehrheitsgesellschaft. Das heißt: Sogar die Menschen, die es aus eigener Erfahrung besser wissen sollten, verhalten sich so. 

Ich stimme Dir zu, dass wir alle dafür sorgen müssen, dass das „Andere“ mehr Sichtbarkeit bekommt, damit es nicht mehr als fremd empfunden wird. Dazu hatten mein Mann und ich mit einem weiteren Paar für über zehn Jahre eine Onlinedokumentation laufen, bei der Paare mit einem behinderten und einem nichtbehinderten Partner ihre Kennenlern-Geschichten erzählt haben. Wir wollten damit mehr Sichtbarkeit schaffen. Das haben wir auch erreicht, aber nur innerhalb der Behindertenszene. Dort hat das Projekt immerhin dazu geführt, dass sich mehr Menschen getraut haben, eine solche „gemischte“ Beziehung einzugehen. 

Aber in der allgemeinen Öffentlichkeit kam das Projekt nie an. Es wurde höchstens von Presseleuten als Anlaufpunkt genutzt, Paare für Klischee-Berichterstattung anzufragen – die wir natürlich abgelehnt haben. Man nennt das „inspiration porn“. Versuche, schon bei der Sprache anzusetzen, werden als political correctness oder Sprachpolizei abgetan. Aktivismus rutscht auch gern ins Aggressive ab und erreicht dann genau das Gegenteil.

Am Ende bleibt einem wirklich nur, sein Ding zu machen, egal, was wer sagt, und darauf zu hoffen, dass es vielleicht bei ein paar wenigen was bewegt. Ich versuche, daher, einfach transparent zu sein, was Barrieren angeht, und offen für Fragen von denen, die sich wirklich damit beschäftigen wollen. Vor allem bei Kindern.

Wie hältst Du es denn mit dem Humor? Dürfen nur Frauen über Frauen Witze machen, oder nur Behinderte über Behinderte? Was ist mit Gruppen, die eine besondere Art von Humor haben, z.B. jiddische Witze? Wann ist es okay, die zu erzählen, und wann nicht?

Humor oder Herablassung?

Birgit Nüchter

Oh ja – Humor. Ich bin da ziemlich wählerisch. Ich kann nicht über blöde Witze lachen und ich kann mir auch keine Witze merken. Ich mag Satire, Ironie auch mal Sarkasmus und Wortwitz. Für mich geht es bei einem guten Witz um menschliche Schwächen im Allgemeinen. Es sind weniger Witze auf Kosten einer bestimmten Gruppe. Auch die jiddischen Witze nehmen oft das Leben im Allgemeinen aufs Korn und sind voller Selbstironie. 

Gibt es wirklich gute Witze über Frauen oder Behinderte? Und was macht einen Witz zum guten Witz? Das ist doch immer die überraschende Pointe, mit der man nicht rechnet. Bei vielen Flachwitzen, die auf Kosten von bestimmten Gruppen gemacht werden, geht es nur um die Pointe – aber die ist nicht selbstironisch oder feinsinnig sondern verletzend. Und für mich darf ein guter Witz nicht verletzend sein. Unter diesem Aspekt stellt sich die Frage gar nicht mehr, ob nur Frauen Witze über Frauen oder Behinderte Witze über Behinderte erzählen dürfen. Ein guter Witz funktioniert, ohne eine bestimmte Gruppe blosszustellen. 

Wie kriegen wir jetzt den Bogen wieder zur Diversity – ich glaube, solange es die Kategorien “Witze über x” gibt, solange haben wir die Schubladen in unserem Hirn weit offen. In diese Schubladen sortieren wir die Menschen und schreiben ihnen dann auch gleich noch bestimmte Eigenschaften zu. Wir pflegen unsere Vorurteile. Und mag es in der Steinzeit noch relevant fürs Überleben gewesen sein, dem “Anderen” mit Vorsicht oder gleich mit der Keule zu begegnen, ist es heute überhaupt nicht mehr wichtig. Trotzdem agiert unser Hirn noch wie in der Steinzeit. Training, ständiges Hinterfragen und Ehrlichkeit zu sich selber ist das einzige, was hilft. 

Was können wir tun, außer jammern? Wir können jeden Tag bei uns selber anfangen – uns zu hinterfragen und unsere Gedanken auf den Prüfstand zu stellen. Vor allem (aber nicht nur!), wenn wir in Schlüsselpositionen sind: Recruiting, HR, Geschäftsführung – bewusst machen, dass wir alle Vorurteile haben und sicherstellen, dass nicht der Bauch alleine entscheidet, der vielleicht den Menschen im Team haben will, den er schon kennt. Kopf einschalten und auch mal den unbequemen Weg gehen. Fast immer lohnt es sich! Vor allem als Führungskraft aber auch in jedem Team gilt es auch, keine ausgrenzenden Witze und Kommentare stehen lassen. Auch als Kundin kann ich entscheiden, ob ich einen Dienstleister beschäftige, der zum Beispiel herablassend über Minderheiten spricht. So wird Kultur und Unternehmenskultur gestaltet und wo nötig auch verändert. Leider braucht das viel, viel Zeit. 

Was wäre denn eine Sache in unserer Gesellschaft bezüglich Diversity, die Du gerne sofort ändern würdest? 

Einander zuerst als Menschen ansehen

Annette Schwindt

Dass nicht mehr ghettoisiert wird, sondern dass alle von klein auf mit Diversität aufwachsen, so wie es bei mir zumindest schon hinsichtlich Alter, Herkunft und körperlichen Fähigkeiten war. Dass Eltern ihren Kindern nicht die Neugier verbieten, für sie Fremdes erforschen zu dürfen, sondern offen mit ihnen darüber sprechen und auch zugeben, wenn sie selbst etwas nicht beantworten können. 

Da hatten wir mal ein schönes Erlebnis mit dem Vierjährigen von Freunden. Er war gerade dabei, mit Thomas Sachen zum Teetrinken aus der Küche zu holen, als Thomas heftige Spasmen bekam. Die Eltern des Kindes erstarrten, weil sie nicht wussten, wie sie reagieren sollten und Thomas war damit beschäftigt, sich wieder zu stabilisieren. Der kleine Junge indessen staunte einfach und man konnte die Fragezeichen in seinem Kopf förmlich sehen. Also sagte ich zu ihm: „Weißt Du, der Thomas versucht manchmal zum Mond zu fliegen, aber das klappt noch nicht.“ Von da an reagierte der Kleine immer ganz gelassen, wenn das wieder vorkam und sagte völlig selbstverständlich zu meinem Mann: „Übst Du wieder?“ Seine Eltern waren sehr erleichtert und haben sich nachher bei mir bedankt, weil sie nicht gewusst hätten, was sie ihm hätten sagen sollen.

Wenn man die Kinder weg zerrt und ihnen verbietet, Fragen zu stellen oder auch nur hinzusehen, verstärkt man nur ihre Unsicherheit und verstärkt das Fremdheitsgefühl. Unterstützt man aber das Aufeinanderzugehen, dann hilft man, dieses „hier wir und die dort“ nicht fortzuführen.

Das wäre überhaupt mein Wunsch: Dass die Menschen einander zuerst als Menschen ansehen und sie so behandeln, wie sie selbst behandelt werden wollen, wenn sie irgendwo neu sind. Denn jede:r kann fremd werden, selbst wenn er:sie sich nie aus der gewohnten Umgebung wegbewegt. Das habe ich schon öfter miterlebt, wenn jemand durch Unfall oder Krankheit vom früheren „Wir“ zu „den anderen“ wechselt. 

Vielleicht schaffen wir es mit diesem Bloggespräch ja, ein bisschen dazu beizutragen? Das fände ich schön! Danke, dass Du Dir die Zeit dafür genommen hast! Hiermit überlasse ich Dir das Schlusswort:

Festgefahrene Wege verlassen

Birgit Nüchter

Dass Menschen einander zuerst als Menschen sehen – das wäre in der Tat eine tolle Welt, in der ich gerne leben würde. Wie viele Kriege sind aufgrund von “wir” versus “die anderen” entstanden und entstehen oder bestehen immer noch.

Ganz pragmatisch wünsche ich mir auch, dass wir aufhören, uns über Gendersternchen oder ähnliches aufzuregen. Die deutsche Sprache hält das aus – und unseren Gehirnen tut es gut, wenn wir die festgefahrenen Bilder aus der Spur bringen. 

Ich für meinen Teil werde weiterhin wachsam bei mir selber sein – kein Mensch ist davor gefeit, ab und zu die Schubladen zu öffnen. Wenn ich feststelle, dass ich in irgendeiner Form einen Bias habe, dann kann ich den, sobald er mir bewusst ist, viel besser verändern. Mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Welt gehen – das nehme ich mir jeden Tag vor. 

Danke für deine Offenheit und deine anschaulichen Beispiele zum Thema Diversity – ein Thema mit so vielen Facetten! 

Über meine Gesprächspartnerin

Birgit Nüchter

Birgit Nüchter hat über 25 Jahre Erfahrung in einem internationalen Großkonzern gesammelt. Sie hat als eine der wenigen weiblichen Führungskräfte in einer technischen und männerdominierten Welt große, weltweit verteilte Teams geleitet und viele Veränderungsprozesse mitgestaltet. Diese Erfahrungen fließen heute in Ihre Arbeit als Führungskräftecoach (systemischer Business Coach mit Hochschulzertifikat der Steinbeis Hochschule Berlin) ein. Sie lebt und arbeitet in Stuttgart und freut sich jedes Jahr auf die Segelsaison am Bodensee, der Ostsee oder Nordsee. https://birgitnuechter.de

Foto von Birgit: Birgit Nüchter
Avatar von Annette: tutticonfetti

In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.


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Eine Antwort auf „Diversity – Ein Bloggespräch mit Birgit Nüchter“

Danke für dieses schöne Bloggespräch. Ich habe das Format in dieser Form noch nicht so bewusst wahrgenommen.
Ich nehme besonders mit:“Diversity is being invited to the party; inclusion is being asked to dance” (Verna Myers)
Je mehr wir üben, desto besser klappt das Tanzen.
Liebe Grüsse
Juliane

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