Kennengelernt habe ich meine heutige Gesprächspartnerin bei einem Videomeeting von Anna Koschinski. Seitdem haben wir uns bei ähnlichen Anlässen und über Social Media immer wieder unterhalten. Schon lange wollte ich ein Bloggespräch mit ihr machen, aber wir konnten uns auf kein Thema . Also trafen wir uns allein zu einem Videochat und stellten fest, dass wir so viele gemeinsame Themen haben. Gerade hatten wir daher beschlossen, dann eben ein offenes Bloggespräch zu starten und einfach mal zu schauen, wohin es uns führt, kamen wir dank der von Margaretha initiierten #MeineMittwochsmotivation auf LinkedIn das Thema Nächstenliebe.
Liebe Margaretha, nun hat uns doch noch ein Thema gefunden. Und eines, das so nah am ersten Thema ist, über das wir uns damals kennengelernt haben. Das war die #netzwerkliebe, weißt Du noch? Dabei haben sich mehrere Leute online getroffen, um ein Stündchen über ein digitales Thema zu sprechen. Und nun wollen wir beide uns hier schriftlich austauschen. Was reizt Dich an diesem Format?
Tiefergehende Gespräche
Liebe Annette, ich freue mich sehr mit dir dieses Bloggespräch führen zu dürfen und Teil der Gemeinschaft dieses Formats zu sein.
Was mich an diesem Format reizt? “Das geschriebene Wort.”
Manifestierte Worte sind für mich wie geschliffene Diamanten. Ihre Schönheit entsteht in der Tiefe der in Form gefassten Gedanken. Ihr Inhalt ist langlebiger als der flüchtige Ton der Sprechstimme und der Lesende kann sich mit einer bestimmten für ihn relevanten Passage mehrmals, je nach Zeit und Befindlichkeit auseinandersetzen. Das macht vor allem bei tiefergehenden Gesprächen Sinn. So sehe ich das auch bei unserem Thema, der Nächstenliebe.
Kannst Du Dich erinnern, wann Du bewusst in Deinem Leben eine erlebte Begegnung mit Nächstenliebe in Verbindung gebracht hast?
Offen auf andere zugehen
So spontan fällt mir da keine Situation ein, in der ich das, was ich getan habe, auf diese Weise abstrahiert hätte. Ich lebe es ganz selbstverständlich. Und ich hatte schon immer Probleme zu verstehen, wenn jemand das nicht tut. Mir wurde das immer wieder als „die Welt rosa sehen“ oder als Naivität nachgesagt, wenn ich offen auf andere zugegangen bin. Dabei ist das die natürliche Herangehensweise. Das Misstrauen kommt erst durch Erziehung und/oder schlechte Erfahrungen. Die „Werkseinstellung“ beim Menschen ist Offenheit und Altruismus.
Was mir Probleme macht, ist, wenn manche Menschen sich „Nächstenliebe“ auf die Fahnen schreiben, in Wirklichkeit aber das Gegenteil praktizieren. Das war meine Erfahrung, wann immer ich mit Kirche zu tun hatte. Als Mitglied in verschiedenen Gemeinden und auch als ich bei der Zeitung gearbeitet habe. Da wurde immer mit zweierlei Maß gemessen und sowas macht mich furchtbar wütend. Ich kann unfaires Verhalten nicht ertragen.
Erst spät habe ich gelernt, dass ich als Autistin eine völlig andere Perspektive als andere habe. Bis dahin hatte ich geglaubt, alle müssten doch sehen, dass wir soviel voneinander lernen und nur zusammen überleben können. Zu erkennen, dass viele Menschen nur an sich denken, ist etwas, für das ich kein Konzept habe. Das macht mir große Angst… Ich versuche, dem so gut ich kann in meinem nächsten Umfeld etwas entgegenzusetzen, und hoffe, dass das andere ansteckt.
Wie gehst Du damit um?
Altruismus leben
Ich kann Deine Schilderungen sehr gut nachvollziehen. Schon früh habe ich erkannt, gerade im Austausch mit anderen, gut auf meine Intuition zu hören und mich von egoistischen Menschen und solchen mit zweierlei Gesichtern zurückzuziehen. Ich sehe das als meine Selbstfürsorge und Grundlage in meinen Möglichkeiten Altruismus zu leben.
Gerade in herausfordernden Lebenssituationen habe ich gelernt Vertrauen in meine Gaben zu haben und meine Fähigkeiten zu meinem und zum Wohle aller Beteiligten einzusetzen.
In meinem dritten Lebensabschnitt ergab sich daraus meine Trauerbegleitung für verwaiste Mütter per E-Mail. Das Besondere daran ist, dass ich diese auf Spendenbasis anbiete.
So lebe ich Nächstenliebe von Mensch zu Mensch, kann meine Erfahrung als selbst verwaiste Mutter weitertragen und zusätzlich einen Beitrag im christlichen Sinne leisten.
Bist Du auch in einem eigenen oder in einem Gemeinschaftsprojekt engagiert?
In verschiedenen Projekten engagiert
Ja, ich bin immer wieder in solchen Projekten aktiv oder starte eigene.
Zum Beispiel hatten mein Mann und ich von 2003 bis 2018 ein Dokumentationsprojekt über Paare mit einem behinderten und einem nichtbehinderten Partner online. Darin haben sie ihre Geschichte erzählt, um zu zeigen, dass solche Beziehungen denselben Weg gehen wie bei anderen auch. Damit waren wir zumindest unter Behinderten ziemlich bekannt. (So stellte ich zum Beispiel irgendwann mit Erstaunen fest, dass Raul Krauthausen mich dadurch schon kannte bevor ich von ihm gehört habe.)
2017 habe ich das Crowdfunding #einRadfuerKai durchgeführt, bei dem ich viel über das Thema Schlaganfall und Aphasie gelernt habe. Seitdem versuche ich, das Thema unter die Leute zu bringen, da das ja jeden treffen kann. Ich selbst bin durch eine Vorerkrankung besonders gefährdet. Und an Kai sehe ich, wie schlimm das für jemanden ist, der im Leben davor sehr eloquent war…
Aktuell engagiere ich mich bei Little World, einer Plattform, die Kontakt zwischen deutschlernenden Migrant:innen und ehrenamtlichen deutschen Muttersprachler:innen vermittelt, die sich dann mindestens eine halbe Stunde pro Woche per Videochat unterhalten. So bekommen die zugewanderten Menschen Sprachpraxis und beide Seiten finden Einblicke in die Kultur des anderen. Ich selbst habe momentan drei feste solche Kontakte. Außerdem gehe ich mittwochs ins offene Gruppengespräch, wo man einen zufälligen Gesprächspartner bekommt. Und ich bin als Volunteer im Team für digitale Kommunikation tätig (ich schreibe z.B. die „Stories“ über die Gesprächspartnerschaften).
Das macht großen Spaß! Vielleicht magst Du auch mal vorbeikommen? Was hältst Du von solchen Projekten?
Voneinander lernen
Projekte dieser Art, aber auch solche, die auf Eigeninitiative beruhen, sind großartig und bewundernswert. Ich habe auf der Homepage von Little World vorbeigeschaut und gesehen, dass die Initiatoren junge Menschen mit großen Visionen sind. Das schätze ich total und freue mich, dass es heutzutage unkompliziert möglich ist, solche Taten der Nächstenliebe auf die Beine zu stellen, diese in die Welt zu tragen und dafür Unterstützung zu bekommen.
Wenn es meine Energie zulässt, schaue ich gerne mal bei einem Gruppengespräch auf der Plattform von Little World vorbei. Im Moment bin ich immer noch Co-Patientin meines Mannes und muss meine Kraft gut einteilen.
Angeregt durch Deinen Impuls denke ich spontan an meine Zeit als Realschülerin zurück und an meine Idee, ältere Menschen in den Altenheimen an vereinbarten Nachmittagen zu besuchen, ihnen vom Schulalltag zu erzählen und ihre Lebensgeschichten zu hören. Meine Intention war, wir können doch Alle voneinander lernen.
Leider ist meine Idee bei all meinen Freundinnen auf taube Ohren gestoßen. Sie wollten ihre Freizeit ohne Verpflichtungen gestalten. Alleine traute ich mich damals leider nicht, mein Vorhaben umzusetzen.
Auch ist es kaum zu glauben, dass das Thema immer noch aktuell ist und ohne das Engagement ehrenamtlicher Mitarbeiter, eine gewisse Teilhabe am Leben, auch außerhalb der Senioreneinrichtungen, leider nicht möglich wäre.
Es ist für mich auch kaum auszuhalten, dass ich immer öfter feststellen muss, wie sich der Egoismus wie ein Parasit verbreitet und die selbstverständliche Hilfsbereitschaft untereinander an Dynamik verliert.
Ist das nur mein Eindruck oder nimmst Du das ICH-Phänomen auch wahr?
Soziale Ungleichheit
Ja, die Individualisierung nimmt bei einigen inzwischen überhand… Ich kann verstehen, wenn jemand eher seine Ruhe haben will, aber Hilfe zu verweigern, oder nur ans eigene Wohl zu denken, das verstehe ich nicht.
Es kommt wohl daher, dass sich die Menschen im reichen Teil der Welt immer nur mit den noch reicheren vergleichen, statt mal zu schauen, wie gut es ihnen hier geht.
Wenn ich hier jemandem aus den unteren Einkommensklassen sage, dass er zu den reichsten fünf Prozent der Welt gehört und das auf Kosten der Menschen im globalen Süden, dann wird der sehr ungehalten werden. Weil er hierzulande innerhalb der sozialen Ungleichheit am unteren Ende steht und nur neidisch nach oben schaut.
Aber auch die Besserverdiener sehen das in der Regel nicht ein, weil sie ständig darum kämpfen (müssen?), nicht an Status und Wohlstand zu verlieren. Und leider hilft die aktuelle Politik und Erziehung da nicht wirklich weiter…
Passenderweise führe ich übrigens gerade ein weiteres Bloggespräch zum Thema „In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?“ mit einem jungen Mann aus Marokko, den ich bei Little World kennengelernt habe. Deswegen will ich hier nicht zu viel vorweg nehmen, was ich dort schon geschrieben habe. Also nur kurz:
Ich bin auf dem Dorf bei meiner Oma aufgewachsen, die nicht viel Geld hatte. Aber durch Achtsamkeit sowie gegenseitiges Helfen und Teilen mit den anderen Flüchtlingsfamilien (meine Familie ist väterlicherseits donauschwäbisch), habe ich damals nie Armut gefühlt. Im Gegenteil: Ich empfand mich als Teil eines hilfreichen Netzwerks, in dem jeder ganz selbstverständlich das beisteuerte, was er am besten konnte. Die andere Seite der Medaille war allerdings eine viel stärkere soziale Kontrolle.
Was denkst Du, wie man die richtige Balance findet zwischen praktizierter Nächstenliebe und dem anderen zu sehr auf die Pelle rücken?
Auf Augenhöhe bleiben
Ich denke es kommt zum einen immer auf die Notwendigkeit Menschen beizustehen, vor allem jedoch auf gegenseitige Augenhöhe an. Das persönliche und fürsorgliche Gespräch steht dabei für mich an erster Stelle. Die richtige Balance zwischen Geben und Nehmen entsteht meiner Erfahrung nach dann ganz automatisch.
Wer ehrliche Nächstenliebe praktiziert, ist immer auch demütig und hat ein sehr gutes Gespür für seine Mitmenschen. Diese Haltung spürt das Gegenüber, fühlt sich nicht bedrängt und kann in der Regel die erforderliche Hilfe gut annehmen.
Du fragst Dich jetzt vielleicht, wie ich zur Demut komme?
Ich bin in einem Geschäftshaushalt mit drei Generationen aufgewachsen und für uns Kinder war unsere Tante „zuständig“, da meine Eltern und Großeltern im Betrieb sehr eingebunden waren.
Sie gehörte dem franziskanischen Laienorden, dem Dritten Orden an und Du kannst Dir vorstellen, dass sie uns die franziskanische Spiritualität der Nächstenliebe vorgelebt und meinen Bruder und mich in diesem Sinne erzogen hat. Das war zwar nicht immer einfach für uns, doch diese Prägung ist mir in Fleisch und Blut übergegangen und so liegt mir das Wohl meines Nächsten immer am Herzen.
Sich nicht in den Vordergrund zu stellen, ist meines Erachtens Grundvoraussetzung für eine gelingende Nächstenliebe.
Was sagst Du zu dieser These?
Das Graswurzelprinzip leben
Mir geht es meistens umgekehrt eher so, dass ich meine eigenen Bedürfnisse gegenüber der Hilfe für andere zu sehr hinten anstelle. Das führt dann oft dazu, dass meine Grenzen immer weiter gedehnt werden, bis ich irgendwann nicht mehr kann. Die Augenhöhe erkenne ich dann also eher daran, ob der andere hinter der Hilfe auch den Menschen sieht und von selbst darauf kommt, dass ich auch mal Pausen brauche.
Als Frau wird man ja oft auch dazu erzogen, sich selbst hinten anzustellen, weil sonst alles zusammenbricht. In einem funktionierenden Netz springt man dann füreinander ein. Früher war das die Familie und/oder die Nachbarschaft. Heute sind das eher Freunde – wenn überhaupt…
Aber ich plädiere immer für das Graswurzelprinzip: Was Du in die Welt raus schickst, wird sich fortsetzen, auch wenn Du das Meiste davon nie mitbekommen wirst. Aber ab und zu blitzt mal ein kleines Licht auf, das Dir zeigt, dass es nicht umsonst war.
Wie siehst Du das? Kann Nächstenliebe ansteckend wirken? Und wenn ja, wie stellt man das an?
Jeder kann sich engagieren
Ich sehe das genauso, liebe Annette. Alles, was wir aus voller Überzeugung und in liebevoller Absicht in die Welt senden, wird Kreise ziehen und Früchte bringen. Davon bin ich felsenfest überzeugt.
Mein Sohn, der Elektroingenieur war, sagte einmal zu mir, Mama, alles ist Energie und sie findet immer ihren Weg. Wie recht er hatte!
Somit hat die Liebe zum Nächsten für mich ein großes positives Ansteckungspotential. Wer sich mit ihr verbündet, kann gar nicht anders, als sie in die Welt zu tragen und das ist ganz einfach.
Jeder von uns ist mit individuellen Talenten ausgestattet und hat diese (so hoffe ich doch) in seinem Leben weiterentwickelt.
Sei es im sozialen, technischen oder wirtschaftlichen Umfeld, im Bereich der Kreativität, gestalterisch, musikalisch oder im großen Radius der Kommunikation. Die Liste lässt sich sicherlich fortführen.
Egal ob individuell, in einer für ihn passenden Gemeinschaft, materiell oder immateriell, es gibt immer Anknüpfungspunkte, sich für den Nächsten zu engagieren.
Der Wunsch, sich für ihn absichtslos zu interessieren, ist meines Erachtens der erste und wichtigste Auslöser dafür. Die Freude daran spielt natürlich auch eine wesentliche Rolle dabei. Diese kehrt jedoch erfahrungsgemäß hundertfach zurück.
Du hast mit deinem vielseitigen Engagement, wie z.B. bei Little World schon ein nachahmenswertes Beispiel genannt.
Jeder kann in seinem Umfeld je nach Alter und Konstitution durch das Vorleben von Nächstenliebe z.B. in der Nachbarschaftshilfe oder im Ehrenamt Vorbild sein und dazu Mut machen.
Das ist für mich der größte Hebel, die Nächstenliebe immer wieder in das Bewusstsein der Menschen zu bringen.
Über meine Gesprächspartnerin
Margaretha ist Cosmogetische Trauerbegleiterin speziell für verwaiste Mütter und Bloggerin im Lebens-Schatzkisten-Blog. Ihr Anliegen ist es, den Tod als Teil unseres menschlichen Daseins zu würdigen und die Trauer als eine liebevolle Begleiterin anzuerkennen und wertzuschätzen. Ihre Unterstützung basiert auf Spendenbasis.
Foto von Margaretha: Margaretha Schedler
Avatar von Annette: tutticonfetti
In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.
4 Antworten auf „Über die Nächstenliebe – Ein Bloggespräch mit Margaretha Schedler“
Liebe Annette,
wie wunderschön Du unser Gespräch kuratiert hast. Vielen Dank dafür. Es hat mir viel Freude gemacht, mich mit Dir in diesem tollen Format auszutauschen.
Ich hoffe, dass wir mit unserem Vorbild Nächstenliebe zu leben viele Menschen anstecken können, denn jeder von uns kann zum Frieden in der Welt seinen Beitrag leisten.
Ich freue mich auf einen weiteren guten Austausch mit Dir.
Liebe Grüße
Margaretha
Ich freue mich auch auf unseren weiteren Austausch, liebe Margaretha!
Wie schön und wertvoll das Gespräch war, liebe Annette! Es hat mir viel Spaß und Freude gemacht, den Artikel zu lesen. Ich freue mich sehr auf die Veröffentlichung unseres Bloggesprächs.
Danke, Thami. Ich bin auch schon gespannt auf unser fertiges Gespräch!