Pullovers Abenteuer

Der folgende Text stammt von meiner ukrainischen Freundin Olena, die mich gebeten hat, ihn hier zu veröffentlichen. In einem unserer Gespräche hat sie mir diese Geschichte erzählt. Daraufhin habe ich sie gebeten, sie aufzuschreiben, was sie auch gleich inspiriert hat:

Von Olena Sergeyeva

Mein ganzes Leben lang, seit ich etwa sieben Jahre alt war und gemeinsam mit meiner Freundin Irka gelernt habe, Maschen auf die Nadeln zu nehmen, stricke ich. Ich bin darin nie Profi geworden – für mich ist Stricken wie Sportangeln: stricken, auftrennen, von vorn beginnen. Der Prozess selbst fesselt mich meist mehr als das Ergebnis. Aber manchmal entstehen unter meinen Händen wirklich vorzeigbare Stücke, auf die ich sogar ein wenig stolz bin.

Die Geschichte, die ich erzählen möchte, handelt von einem Pullover, den ich kurz vor dem Krieg zu stricken begann. Das Garn hatte ich eher zufällig im Supermarkt gekauft – einfach, weil mich die Farbpalette begeisterte: sanfte Übergänge, die an Herbstlaub und Herbstregen erinnerten. Kurz gesagt: ganz meine Farben. Was ich daraus stricken wollte, entschied ich erst später, und so kam das Projekt nur zögerlich in Gang.

Am 24. Februar 2022 änderte sich alles. Plötzlich war Stricken das Letzte, woran ich dachte, denn es galt, meine Familie in Sicherheit vor den Bomben zu bringen. Doch als ich schließlich allein in der Wohnung blieb, wurde mir mein Pullover zur Rettung. Er half mir, nicht verrückt zu werden vor Angst, Sorge und einer Wut, wie ich sie nie zuvor empfunden hatte. Ich strickte, die Maschen reihten sich ordentlich aneinander, Farben wechselten sanft – und meine Gedanken kamen zur Ruhe, schwenkten auf andere Themen um. Als dann auch ich meine Wohnung verlassen musste, nahm ich – neben meiner hundertjährigen Großmutter, meinen Papieren und Katzen – auch mein angefangenes Buch und den unfertigen Pullover mit: als Verbindung zu dem Leben, in das ich hoffte, bald zurückzukehren.

Doch es dauerte. Eineinhalb Monate blieb ich bei Verwandten auf dem Land und strickte weiter, ohne über das Ergebnis nachzudenken. Das war völlig unwichtig, denn das Stricken beruhigte mich; die Hände waren beschäftigt, die Gedanken zu müde für düstere Grübeleien.

Im April 2022 war der Pullover dann mit mir in Köln angekommen. Eine Zeit lang blieb er unbeachtet, denn es gab viel zu organisieren und im neuen Leben Fuß zu fassen. Irgendwann wollte ich weitermachen, nur um festzustellen: Der Pullover war riesig geworden – passend vielleicht für Gulliver, aber nicht für jemanden in meinem Umfeld. Also habe ich ihn mit größtem Vergnügen wieder aufgetrennt. Damit ließ ich auch all das Schlechte los, dessen Zeuge er gewesen war und das er aufgesogen hatte. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.

Ein weiteres Jahr verbrachte ich damit, ein neues Modell auszuwählen. Am Ende war es etwas ganz Einfaches: ein breiter Schal, der auf besondere Weise zusammengenäht wird und so eine interessante Silhouette ergibt. Diese Version war in einer Woche gestrickt. Nun ist dieser „Reisepullover“ mein Lieblingsstück im Kleiderschrank – wohl auch, weil er so viel gemeinsam mit mir erlebt hat.

Titelbild: Olena Sergeyeva

Fediverse-Reaktionen

Von Annette Schwindt

Diese Website ist mein Room of Requirement. Hier bewahre ich alles auf, was von meinen früheren Websites bis 2016 zum Löschen zu schade war. Seitdem füge ich Neues zu allen möglichen Themen hinzu: Ich habe ein Faible für Sprache(n), für Geschichten und Gespräche. Ich liebe Kunst, Musik und alles Kreative und vor allem macht es mir Freude, Menschen miteinander zu verbinden. Viel Spaß beim Stöbern!

5 Antworten auf „Pullovers Abenteuer“

Einen lieben Gruß an Olena und danke für die berührende Pullover-Geschichte. Der Schal sieht ganz phantastisch aus. Wer hat schon einen Schal, dessen Fäden solch eine Verwandlungsgeschichte erzählen können!
Und jedem Anfang liegt ein Zauber inne. Dieser Satz fällt mir gerade ein.
Nur das Allerbeste an Olena und Dich liebe Annette. Wie gut, dass durch Dich diese Geschichte in die Welt durfte.
Margaretha

Margaretha, danke für die Rezension, das war meine erste Erfahrung mit dem Schreiben einer Kurzgeschichte, und es hat mir Spaß gemacht, und ich bin froh, dass sie Ihnen auch gefallen hat. Ich möchte mich besonders bei Annette bedanken, die mich zu dieser Geschichte inspiriert hat.

❤️ Wir sind zusammen einfach ein kreatives Team, Olena! Und ich habe so ein Gefühl, dass das nicht die einzige Geschichte bleiben wird, die Du schreibst… 😉😘

Was für eine wunderbare Geschichte. Sie beweist, dass niemand hilflos ist, auch wenn die Situation, in der man sich befindet, sehr hilflos machen kann und natürlich schrecklich ist. Natürlich ändert es nichts an der Gesamtsituation, aber es macht sie erträglicher. Es ist oft die Ohnmacht die einen verrückt macht.

Diese Ohnmacht hat Olena besiegt und herausgekommen ist noch ein Schal mit dem sie sich an eine bewegte Zeit im Leben erinnern wird. Wer weis, irgendwann erinnert er sie an dann an die guten Momente, die sie in der schweren Zeit hatte und Rest verblast mit der Zeit.

Ich hoffe und wünsche, dass Olena mit ihrer Familie hier in Deutschland gut aufgenommen wurde und sich hier gut und sicher fühlt. Unsere Welt und unsere Gemeinschaft braucht mehr solcher Geschichten, danke das ihr sie mit uns geteilt habt.
Detlef

Vielen Dank für Ihre freundlichen Worte. In unserem Leben ist es wichtig, etwas zu finden, das uns durch die schweren Zeiten hilft, das kann alles sein, in meiner Situation war es ein Schal, wenn man es so nennen kann, es ist nichts, aber gleichzeitig sind es die kleinen Dinge, die unser Leben ausmachen, und ja, in Deutschland habe ich gute Leute gefunden, die mir geholfen haben, und Freunde.

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