Gefühlt alle meine Kollegen sind gerade in Berlin auf der re:publica, twittern und und posten und instagrammen, was das Zeug hält über „Ditte is Berlin“ – und ich sitze hier zuhause in Bonn und schaue zu.
Natürlich wurde ich vorher wie immer gefragt, ob ich nicht auch dort sein würde und wo man sich denn dann mal treffen könnte, mal so auf’n Kaffee, mal persönlich kennenlernen und so…
Is nich. Kann ich nicht.
Ikke nüsch.
Damit ernte ich dann entweder betroffenes Schweigen (von denen, die schon mal was von meinen Herzproblemen mitbekommen haben) oder Gleichgültigkeit. Wirklich nachfragen tut keiner. Und manchmal weiß ich nicht, ob ich froh drüber sein soll oder traurig…
Die Sache mit den Löffeln

Ein Bekannter, der ebenfalls nicht so kann wie er gern möchte, wies mich neulich auf folgenden Artikel hin (Anm. Artikel nicht mehr online, siehe statt dessen den daugehörigen Wikipedia-Artikel). Darin erzählt die Autorin, wie sie ihrer Freundin anhand einer Handvoll Löffel zu erklären versucht, wie es ist, wenn man jeden Tag mit seinen begrenzten körperlichen Ressourcen haushalten muss. Jede Aktion, selbst kleine Dinge, die andere ohne nachzudenken mal nebenher machen können, kostet eine bestimmte Anzahl an Ressourcen – in dem Beispiel durch Löffel symbolisiert. Aber besser selbst mal den Artikel lesen…
Bei mir ist es wie in dem Artikel. Ich beginne meinen Tag damit, meine Löffel zu zählen und mit den anstehenden Tagesaufgaben abzugleichen. Ich muss jede Aktion danach abwägen, wieviele Löffel sie mich kostet und wieviele sie mir für den Rest des Tages und die Aktionen, die noch ausstehen, übrig lässt. Und einen Reservelöffel sollte man immer noch haben, falls was Unvorhergesehenes passiert.
Wer das nicht kennt, wird das schwer verstehen. Gerade weil man es von außen ja auch nicht sieht.
Wenn Freunde da sind, vergesse ich auch schon mal darüber nachzudenken und verbrauche mehr Löffel als ich eigentlich zur Verfügung habe. Wie das dann ist, wenn sie mir nachher fehlen, kriegen die Freunde nicht mehr mit. Das äußert sich ja erst, wenn sie wieder weg sind. Wieviele Aktionen ich schon canceln musste, um überhaupt genug Löffel für dieses Treffen zusammenzubringen, sehen sie auch nicht. Und Reisen kostet alle Löffel für mehrere Tage.
Na, mit der Einstellung
Natürlich hat das auch emotionale Konsequenzen. Es ist unglaublich frustrierend, wenn man ständig vom eigenen Körper ausgebremst wird. Und es ist unglaublich anstrengend, ständig gute Miene dazu machen zu müssen – weil es sonst gleich heißt, man ließe sich hängen, und „Ja, mit deeer Einstellung“…
Ich wünschte, es wäre so einfach!
Meine Herzgeschichte ist angeboren, außer entsprechend angepasstem Verhalten (= Aufpassen!) gibt es keine Therapie. Medikamente helfen nur, die Anfallshäufigkeit einzugrenzen. Verhindern können sie es nicht. Jeder Anfall bringt den Körper an die Grenzen der Belastbarkeit, das Auftanken dauert inzwischen Monate. Und wehe, es kommt während des Aufladens ein neuer Anfall dazu. Dann bitte alles nochmal auf Anfang aber ein ganzes Stückchen weiter zurück aber bitte mit der richtigen Einstellung! (Update: Inzwischen gibt es bessere Medikamente, die mir zwar etwas mehr Bewegungsfreiheit verschaffen, dafür andere Nebenwirkungen haben. Ich arbeite weiter dran…)
An Einstellung mangelt es mir echt nicht. Was mir fehlt ist schlicht und ergreifend körperliche Kraft… Und ein Holzhammer für Ärzte, die mir nach so einem Anfall dann mal im Vorbeigehen sagen „Tja, Pech gehabt, das ist echt selten. Alt wird man damit nicht…“.
Das auch noch
Doch selbst wenn ich die körperliche Kraft hätte, in der Weltgeschichte herumzureisen und tagelang über Messegelände zu spazieren – eine Sache würde mich immer noch davon abhalten: Ich kann nicht filtern. Meine sämtlichen Sinne sind permanent auf Hyperempfang geschaltet.
Sobald ich mehr als eine Person auf einmal vor mir habe, ist Ende Gelände. Kleinere Gruppen für ein paar Stunden sind mit Anstrengung auszuhalten, größere Gruppen sind extrem anstrengend und solche Massenaufläufe wie bei der re:publica würden meinen Kopf vermutlich zum Platzen bringen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn durch die Herzgeschichte hab ich ein erhöhtes Schlaganfallrisiko.
Auch diese schnelle Reizüberflutung (ich verorte mich im Autismusspektrum) ist angeboren. Das ist – entgegen anderslautender Definitionen, die alles patholigisieren müssen – keine Krankheit, sondern einfach eine Art, verdrahtet zu sein. Man nennt das Neurodiversität.
Sport als Ausgleich geht bei mir nicht, siehe oben. Wenn der Körper es zulässt, hilft Singen. Wenn nicht, geht nur noch Rückzug…
Am Anfang war…?
Ob die Herzgeschichte mit dem Autismus zusammenhängt, ist wie die Frage nach der Henne und dem Ei. Ich weiß es nicht und ehrlich gesagt interessiert es mich nicht. Ich bin wie ich bin und wer nicht damit kann, soll sich eben irgendeinen sportlichquadratischpraktischeren Menschen suchen, der ihn nicht zwingt sich mit körperlicher Begrenztheit und Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Je älter ich werde, umso weniger Lust und Kraft hab ich, deswegen zu herumzustreiten. Ich investiere meine Löffel lieber in produktivere Dinge.
Meistens funktioniert das auch sehr gut. Nur an solchen Tagen wie heute fällt mir das mit der guten Miene dann eben schwerer als sonst…
Nächstes Mal
Das nächste Mal – so nehme ich mir mal wieder vor – wird es mir noch ein bisschen weniger weh tun, dass ich nicht dabei sein kann. Bei der nächsten Konferenz, dem nächsten Barcamp, der nächsten Buchmesse oder auch privat beim nächsten Familientreffen…
Vielleicht haben bis dahin aber auch einige diesen Artikel hier gelesen und verstehen es besser? Vielleicht nutzen die Lieblingskollegen dann eines ihrer vielen Postings und Tweets dazu, mir zu zeigen, dass sie trotzdem an mich denken? Ein Winkefoto per Mail oder Smartphone? Oder ein Gruß vom Familientreffen als Postkarte mit vielen Unterschriften?
Mal sehen…
PS. Einer hat gefragt und mir damit den Schubs für diesen Artikel gegeben: Danke Guido! 🙂
NACHTRAG 1 (8.5.2013, nachmittags): Dieser Blogartikel hat sich rasend verbreitet und zu vielenvielen Reaktionen nicht nur hier in den Kommentaren, sondern auch auf Facebook, Google+, Twitter und Instagram geführt!
NACHTRAG 2 (8.5.2013, abends): Und zum Schluss war ich dann doch noch – zumindest virtuell – auf stage1 der re:publica.
Und im Video (ab 6.47): https://youtu.be/b7_8k2PaUkw

Foto: Christoph Müller-Girod


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