Autismus – und dann?

Tja, so einfach wie ich mir das vorgestellt habe, ist das dann wohl doch nicht… Es ist das eine, sich zu sagen „Nimm’s locker“ und das andere, es dann auch tatsächlich zu schaffen… Wer mein Blog hier schon länger liest, hat meine Reise zur Selbsterkenntnis mitbekommen: Vom Entdecken, dass es sowas wie Hochsensibilität gibt (Danke, Bettina!), über verschiedene Tests zu Hochbegabung oder (wie sich später rausstellte männlichem) Autismus bis hin zum Erfahren von und wirklichen Wiedererkennen in der weiblichen Form von Autismus… (Thanks so much, Charlie!)

So eine Selbsterkenntnis bringt zum einen natürlich Erleichterung mit sich. Es erklären sich so viele Dinge, mit denen man vorher gehadert hat. Gleichzeitig ist es aber auch ein Schock: Warum hat das vorher keiner gemerkt und wenn doch, warum hat keiner was gesagt? Ich hätte mir so viele Verletzungen ersparen oder wenigstens besser erklären können… Und was mach ich jetzt damit?

Wie und bei wem ansprechen?

Dann kommt das Schwierigste: Man möchte es seiner Umwelt mitteilen, sie an der Erkenntnis teilhaben lassen. Weil man hofft, dass sie einen dann besser verstehen und weil man generell dazu beitragen will, dass das Thema zugänglicher wird. Dabei sollte man sich – wie ich nun erfahren musste – aber auf einige Rückschläge gefasst machen. Hier nur ein paar Beispiele:

  • Besuch bei der Hausärztin, mit der man das Thema besprechen will. Vielleicht kann sie einem ja Tipps geben, wie man am besten damit umgeht, oder einem jemanden empfehlen, bei dem man sich informieren kann. Statt dessen: „Ja, was wollen Sie jetzt von mir damit?“ und „Ich frage mich ja, ob die Leute in Afrika sowas wie Autismus kennen?“ Unnötig zu sagen, dass ich mich da nicht aufgehoben gefühlt habe…
  • Der Versuch, es Freunden zu sagen, die dann  – gut gemeint, aber echt völlig daneben – antworten: „Ach Mensch, aber wir lieben Dich doch trotzdem.“ – Trotzdem?
  • Und dann die, die sagen: „Ja und, das ändert doch nichts.“ – Äh… ja für Euch vielleicht nicht! Aber habt Ihr Euch mal überlegt, was das mit mir macht? Und was es mit mir macht, wenn ich mitkriege, dass Ihr nicht drüber reden wollt? Wie ich plötzlich eine deutliche Ahnung davon kriege, warum Menschen mit Depressionen – zu denen ich nicht gehöre, keine Sorge – das Gefühl kriegen, dass sie keiner verstehen kann?

Arbeitsspeicher voll

Zum Glück gibt es ein paar Menschen in meinem Leben, die sehen oder zumindest ahnen, was da gerade mit mir passiert. Die auch nachfragen, wie es mir damit geht.

Antwort: Ich weiß gerade wirklich nicht, wie mir geschieht! Mein Arbeitsspeicher ist am Anschlag!

Offenbar gibt es nur sehr wenige Fachleute, die sich damit auskennen, und der offizielle Diagnoseprozess ist furchtbar umständlich und langwierig. Das macht man wirklich nur, wenn man unbedingt eine Bescheinigung braucht, weil die Einschränkungen im „normalen“ Leben so groß geworden sind, dass man alleine nicht mehr klar kommt.

Wer das nicht braucht, kann von so einer Diagnose nicht mehr bekommen als er voher eh schon weiß. Deshalb wird in einschlägigen Autismusforen auch davon abgeraten, sich das anzutun, wenn man nicht unbedingt den Wisch braucht.

Und jetzt?

Inzwischen muss ich halt weiter kommentarlos ertragen, wie z.B. medizinisches Personal einen für anstrengend hält, statt den Begriff „autistisches Spektrum“ zu erwähnen, weil die sonst völlig falsche Schlüsse ziehen und man womöglich nicht mehr in Therapie-Entscheidungen eingebunden oder die Therapie komplett verweigert wird. Solche Geschichten hört man nämlich zuhauf, wenn man mal anfängt, andere Autisten nach ihren Erfahrungen zu fragen. Nicht sehr ermutigend!

Dann kriegt man Artikel in nicht ganz unbedeutenden Medien zu lesen, in denen Menschen mit Autismus völlig falsch dargestellt werden – aber zum Glück auch Antworten, in denen das gerade gerückt wird! (Danke @misharrrgh!)

Außerdem fallen einem tausend Situationen von früher ein, die sich jetzt in einem neuen Licht erklären lassen. Probleme bei der Arbeit, mit Freunden, gescheiterten Beziehungen… Ein Aha-Moment nach dem anderen! Und nur sehr wenige Freunde, die das miterlebt haben, die diesen Aha-Effekt mit einem teilen.(Danke, Alex!)

Die Mehrheit interessiert es einfach nicht. Und dann erzählen Dir andere Autisten, dass sie längst keine neurotypischen Freunde mehr haben, weil die ja eh nix kapieren. – Hey, ich möchte meine aber behalten! 🙁

Reaktionen

Der Versuch, anderen (Nichtautisten) eine „Annette-Gebrauchsanweisung“ (Update: Als Alternative wurde mir „Beipackzettel“oder zumindest „Gebrauchsanleitung“ vorgeschlagen 🙂 ) zu geben, damit ich nicht in die jetzt für mich erkennbaren Standardprobleme mit sozialen Situationen rutsche, und damit folgende Reaktionen ernte:

  • Keine Antwort kriegen und nie wieder vom anderen hören. (Und tschüs!)
  • Betretenes Schweigen oder drüber weg reden und dann so tun als ob nichts wäre und sich später wundern, warum ich mich zurückziehe. (Ich kann doch verstehen, dass Euch das verunsichert, aber warum könnt Ihr nicht mit mir drüber reden?)
  • Voreilige Schlüsse ziehen, weil man mal irgendwo im Film oder anderswo was von Autisten gehört hat – siehe Video weiter unten. (Es ist doch okay, wenn Ihr Euch nicht damit auskennt, das kann man doch zugeben. Dann fragt doch einfach nach! Ich beisse nicht!)
  • Zuhören und antworten „Danke, dass Du so offen bist. Das hilft mir, das nächstes Mal besser einzuordnen.“ – und dann auch wirklich so handeln, wenn ich in einer konkreten für mich schwierigen Situation nochmal drauf zu sprechen komme. (Ob die innerlich die Augen rollen, weiß ich nicht, aber ich hoffe es mal nicht… Das ist jedenfalls die bestmögliche Reaktion für die, die mir nicht ganz so nahe stehen, aber viel mit mir zu tun haben.)
  • Interessiert zuhören und versuchen sich reinzufühlen. Rückfragen stellen. Zusammen Bilder finden, die es einem Nichtautisten verständlicher machen, wie man sich fühlt. (Thomas, Du bist der BESTE!)

Von BBC3 gibt es übrigens ein schönes Video über die Standardreaktionen.

Lachen hilft

Am Ende bleibt einem wohl wirklich nur die Selbstironie, also das Witze machen mit anderen Autisten (Danke Mia!) und Artverwandten. Da findet man dann z.B. sowas:

She texted me: „Your adorable“
I texted: „No, YOU’RE adorable.“
Now she likes me.
All I did was point out her typo…

Offen drüber reden

Bisher habe ich sehr gute Erfahrungen mit meinen Artikeln zu meiner Selbsterkenntnis-Reise gemacht. Vielleicht gibt es ja auch auf diesen wieder ein paar Kommentare, die mich weiterbringen? Jedenfalls DANKE an alle, die mich bis hierher begleitet haben! You guys rock! ♥

Und vielleicht kommt ja via Suchmaschine oder Sharing der ein oder andere hierher, dem es genauso geht und sich dann wenigstens ein bisschen besser verstanden fühlt, wenn er meine Gedanken dazu liest?

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Diesen Beitrag weitersagen:

8 Antworten auf „Autismus – und dann?“

Vielen Dank für diesen Text, liebe Annette Schwindt – und so mutig unter eigenem Namen. Das wage ich (noch) nicht. Seit der ‚Verdachts-Diagnose‘ hin und zurück hänge ich zwischen allen Stühlen, und es geht mir nicht gut damit.
Vor einer Weile habe ich mal was drüber gebloggert, vielleicht magst du’s lesen?
http://mojour2.blogspot.de/2016/05/vier-jahre-asperger-verdacht.html
(darin Links zu meinen älteren Texten zum Thema)
Herzliche Grüße & gute Wege dir!

Hallo mo und Danke für Deinen Link. Ich bin nicht durch Ärzte, sondern durch andere Autisten und Artverwandte drauf gekommen, die mich in meiner Suche unterstützen. Offenbar geht es vielen wie Dir und mir… und meine bisherigen Erfahrungen mit Rat bei Ärzten suchen ist nicht sehr hilfreich gewesen. Mir ist es auch letztendlich egal wie das heißt, deswegen ist mir eine offizielle Diagnose (noch?) nicht so wichtig. Mir hilft einfach zu erfahren, dass ich nicht die Einzige bin, die von einem anderen Planeten kommt (so das Empfinden) und dass es einen Grund dafür gibt, warum die Dinge bei mir sind wie sie sind. Und Du hast recht: der Knackpunkt ist, wie man selbst und sein Umfeld damit umgeht… Da knabbere ich jetzt dran.

Der Text hätte fast von mir kommen können – vor fünf Jahren, als ich zu meiner Erkenntnis kam. Inklusive (teilweise) der Reaktionen des Umfeldes, und vor allem inklusive des Themas Diagnose. Also willkommen in der Welt der autistischen Selbsterkenntnisse 😉

Nachdem ein Dutzend Psychiater (wegen Depressionen, teils in stationärer Behandlung) nichts merkte und mich stattdessen mehr oder weniger für mein „unnormales“ Verhalten kritisierte bis anranzte, und ich außerdem immer wieder erfahre, daß die Diagnosen, die man von diesen reinen Außensichtlern bekommt, nicht unbedingt mit der Realität übereinstimmen müssen, habe ich für mich ebenfalls beschlossen, daß ich eigentlich keine will. Auch wenn ich vielleicht eine bräuchte, eben wegen Hilfen und Ämtern – denn die gehen ja wiederum davon aus, was ein Arzt nicht mit Stempel und Unterschrift bestätigt hat, das existiert nicht und hat daher auch kein Problem zu sein. Und mit so mancher Diagnose darf man sich bei gewissen Ämtern auch noch auf spezielle, auf die Schwächen ausgerichtete Schikanen einrichten, die den Druck erhöhen.

Das Problem ist eher, daß man früher oder später auf Menschen – auch solche im Spektrum – stößt, die meinen, man solle sich ohne offizielle ärztliche Diagnose nicht als Autist outen, weil man dann ja nicht ernstzunehmen sei. Da kommt dann leicht das Vorurteil auf, man bilde sich das alles ja wohl nur ein und könne es gar nicht so genau wissen. Für mich beißt sich das allerdings zum einen mit der Erkenntnis, daß diejenigen, die die Diagnose stellen können sollten, am wenigsten wissen, weil sie im allgemeinen nur die Außensicht berücksichtigen. Umgekehrt beobachten Autisten häufig von Kindesbeinen an sich selbst und andere viel intensiver, um herausfinden zu können, warum sie so anders sind und immer wieder Probleme bekommen und in Fettnäpfchen treten – im allgemeinen, ohne den eigentlichen Grund herausfinden zu können. Aber unsereins wird ja nicht gefragt, wenn es zum Beispiel um Diagnose-Kriterien geht. Wir sind ja keine Psychiater und können das daher gar nicht wissen. m(

Zum anderen lese ich von Menschen, die die Diagnose bekommen haben, daß ihnen der entsprechende Arzt auch nichts weiter dazu sagen konnte – oder eben nur Platitüden aus der reinen Außensicht. Das heißt, da, wo man eigentlich Hilfe finden sollte, gibt es in den meisten Fällen eben keine, auch wenn deren Außendarstellung etwas anderes erzählt.

Daß wir dann durch die Verwendung des Begriffs „Autist“ als Schimpfwort und/oder Pseudo-Diagnose gegenüber Menschen, die irgendwie in der Öffentlichkeit stehen, als gesamte Gruppe diskriminiert werden, ist dann nochmal ein anderes Thema und nervt mich auch gewaltig. Spricht man die Leute, die derartig ins Klo greifen, darauf an, kommt entweder eine patzige Antwort, eine Nicht-Entschuldigung wie „tut mir leid, daß Sie das so empfinden, aber …“ oder sie reagieren gar nicht – und machen es allesamt bei nächster Gelegenheit wieder.

So, jetzt ist fast ein Roman draus geworden, aber bevor ich aufhöre, wollte ich noch ein paar Links hierlassen, falls Du die noch nicht kennst:

Das Blog von Aleksander Knauerhase, auf Twitter @QuerDenkender
Realitaetsfilter, Blog und Podcast von Benjamin Falk
Butterblumenland, Blog einer Mutter mit einem autistischen Sohn

Gruß, Frosch 🙂

Danke Dir, @Atarifrosch. Es gibt halt überall solche und solche, auch unter denen aus dem Spektrum genau wie bei den Ärzten/Psychiatern…

Ich sehe das wie Du: Das Diagnose-Prozedere ist voll von Hürden, die eben typisch für Autisten sind. Das kann sich keiner ausgedacht haben, der selber betroffen ist! Und solange ich den Wisch nicht für irgrndwas brauche, werde ich mich dieser Tortur nicht unterziehen – wie soviele andere.

Für mich ist Autistsein auch keine Störung oder Behinderung, sondern einfach eine Veranlagung von vielen. Dafür brauche ich keine Bescheinigung.

PS. Und Danke für die Links!

@ Atari-Frosch: ich weiß jetzt nicht, ob das hilft, aber mir fällt gerade auf, dass es solche Diskussionen (wie geht man damit um und wer repräsentiert das Thema so nach außen, dass es im erwünschten Sinn ist …) bei diversen Minderheiten und Selbsthilfethemen gibt. Die Außenwelt soll ja das „richtige“ Bild (was immer das sein mag) von der Sache bekommen. Bis zu einem gewissen Grad ist das ja sinnvoll (PR-Ziele definieren statt planlos rumwursteln), aber man kann andere damit auch übertrieben kontrollieren (wollen).

Zu den nicht eindeutigen Diagnosen noch was anderes: In einem Newsletter bin ich auf den Gedanken gestoßen, dass die Hochsensibilität quasi der Randbereich des Autismusspektrums ist. Nachzulesen hier auf S. 33/34:
https://www.aspies.de/pdf/aspies-newsletter-9-2010.pdf

Jedenfalls könnte es sich wegen des gemeinsamen Nenners Reizoffenheit möglicherweise lohnen, Asperger, Hochsensibilität und ADHS nicht immer als völlig getrennte Phänomene zu betrachten. Hier können Fachleute nur teilweise mitreden, weil ja die Hochsensibilität gar keine Störung ist und damit unter dem medizinischen und diagnostischen Radar liegt. Aber vielleicht springen ja noch mehr Psychologen auf das Thema auf …

(Ich selbst: Reizoffenheit ohne richtige Diagnose. Ich suche mir quasi aus, ob Hochsensibilität oder ein bisschen ADS ohne H besser für mich passt. Letzteres hat den Vorteil, dass keiner meckert, ich sei ja gar nicht sensibel … Der Begriff hochsensibel ist also auch nicht eindeutig, er wird anscheinend öfter mit einfühlsam verwechselt.)

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