Bildung ohne Schubladen – Ein Bloggespräch mit Dr. Meike Bonefeld

Als ich auf Twitter nach Frauen fragte, die mit mir ein Bloggespräch führen möchten, meldete sich die Sozialwissenschaftlerin Dr. Meike Bonefeld bei mir. Wir kamen sofort ins Gespräch über Lernumgebungen und persönliche Erfahrungen. Ein toller Themenbereich für ein Bloggespräch also, der auch anschließt an das Gespräch, das ich mit Dr. Christoph Schmitt zum Thema Lernen geführt habe. Legen wir los:

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Zunächst mal Danke, dass Du Dich überhaupt auf meinen Aufruf gemeldet hast, liebe Meike. Was hat Dich dazu gebracht? Wir waren ja vorher noch nie in Kontakt und ich glaube, Du kanntest meine Rubrik der Bloggespräche vorher auch nicht, oder?

Manch einer hat da ja eher traumatische Erfahrungen mit dem Thema Lernen und ist froh, wenn die Schule etc. ein Ende hat. Dabei lernt man ja sein Leben lang weiter, auch wenn es nicht in einer offiziellen Ausbildung stattfindet. Sich wissenschaftlich damit zu befassen, geht noch einen Schritt weiter auf die Meta-Ebene. Wie bist Du dazu gekommen, Dich wissenschaftlich mit dem Thema Lernen zu befassen? 

Dr. Meike Bonefeld

Liebe Annette, erst einmal: ich freue mich sehr, dass du dich so schnell auf meine Antwort gemeldet hast. Ich habe deinen Aufruf über den Account der Speakerinnen gesehen (übrigens eine ganz tolle Plattform um Frauen sichtbar zu machen!) und war direkt begeistert. Ich konnte mir sehr schnell vorstellen, dass das ein absolut spannendes Format ist und tausche mich auch gerne schriftlich aus. 

Dein Account und deine Idee waren mir sofort sympathisch und dann kam direkt der Gedanke auf: irgendwie hätte ich Lust so etwas mal auszuprobieren, aber habe ich überhaupt etwas zu sagen? Dann dachte ich mir: ach komm trau dich, Meike! Wir sind dann per PM direkt ins Gespräch gekommen und da war ich mir dann sicher: das passt gut. 

Aber zum Thema: ich selbst hatte eine relativ unaufregende Schullaufbahn. Ich war nicht die Einser-Schülerin aber hatte auch keine großen Probleme. Ich war immer eher unauffällig. Es lief so vor sich hin- unaufgeregt. Das erlebe ich im Nachhinein fast schon als Privileg. Es hat mir ganz sicher vieles leichter gemacht. Ich habe mich aber auch oft “unsichtbar” gefühlt. 

Mein Interesse für Schule und Lernen hat sich in meinem Bachelorstudium ergeben. Ich habe Soziologie studiert und bin im Rahmen dessen auch mit empirischen Befunden zu Bildungsungleichheiten in Kontakt gekommen. Im Rahmen einer Hausarbeit sollten wir eine kleine Studie selbst durchführen. Damals bin ich recht zufällig an eine Grundschule gegangen um dort eine Beobachtungsstudie durchzuführen. Und ab dann hatte mich das Thema gepackt. 

Dort zu sehen, dass Lernen ganz essentiell mit der Lernumgebung zusammenhängt und ganz besonders auch damit, wieviel deine Lehrkraft dir zutraut, das hat mich nachhaltig geprägt. So kam ich dann auch dazu mich mit Stereotypen abhängig vom (gelesenen) Migrationshintergrund der Schüler*innen zu befassen. 

Mich haben neben den strukturellen Rahmenbedingungen auch immer individuelle Faktoren interessiert. Deswegen habe ich dann letztendlich im Bereich der pädagogischen Psychologie angeknüpft und dort zu diesem Thema promoviert. Die Themen Stereotypen und Stereotypenreduktion haben mich bis heute nicht losgelassen und begleiten mich nun beruflich als Wissenschaftlerin schon einige Jahre. 

Mich würde interessieren wie du Schule erlebt hast und vielleicht auch noch erlebst und was Lernen für dich heute bedeutet?

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Ich war eine gute Schülerin und Studentin, auch wenn ich unter der Lernumgebung eher gelitten habe. Erst mit über 40 habe ich herausgefunden, dass ich wohl zu den besonders Begabten gehöre und überdies ins Autismus-Spektrum. Dadurch haben sich viele Erlebnisse, gerade im Zusammenhang mit Lernen, im Nachhinein für mich erklärt. Hätte ich das damals schon gewusst, wäre einiges für mich leichter gewesen. 

Heute weiß ich, was mir beim Lernen und Arbeiten hilft und was mich hindert: 

  • Ich brauche einen logischen Ablauf und das Wissen um den größeren Gesamtzusammenhang, da ich nicht nur einen Schritt vorwärts denken kann, sondern immer schon automatisch mitdenke, was sich aus diesem Schritt weiter ergibt und ob er auf die bezogen, die daraus folgen, überhaupt sinnvoll ist. Das Ganze passiert sehr schnell (mein Mann hat das mein Königswinter-Syndrom getauft)
  • Ich denke in Bildern, brauche also konkrete Bezugspunkte zu meinen Themen, die ich visualisieren kann. Am einfachsten geht das mit Anwendungsbeispielen. Was ich im Kopf dadurch sehe, kann ich leicht als Liste, oder Diagramm umsetzen. Ich kann also gut ordnen und Muster finden und die dann auch anderen erklären.
  • Ich bin sehr empathisch und intuitiv, werde davon aber schnell reizüberflutet. Deswegen kann ich nicht in einem Umfeld arbeiten, in dem Dinge nicht ausgesprochen werden (dürfen). Mit autoritärem, intrigantem oder ungerechtem Verhalten komme ich also überhaupt nicht klar. 
  • Ich kommuniziere ganz direkt und verstehe andere nur, wenn sie das auch tun. Dass viele Menschen nicht direkt sagen können, was sie meinen, bereitet mir große Probleme. Andeutungen oder Smalltalk kann ich also nicht nachvollziehen. Umgekehrt kommt es oft zu Missverständnissen, weil andere glauben, etwas in meine Aussagen hineinzulesen, was ich nicht gesagt, also auch nicht gemeint habe. 

Inzwischen lerne ich daher am liebsten praktisch bei der Arbeit an einem konkreten Projekt. Am liebsten allein oder mit einer einzelnen anderen Person, die mit mir kompatibel kommunizieren kann. Aber auch, wenn etwas nicht klappt, lernt man ja etwas daraus. 

Lernen ist ein lebenslanger Prozess und nicht nur Schule/Bildung, wo nur bulimisch für Prüfungen gebüffelt wird, statt für die langfristige eigene Entwicklung. Gerade Autismus ist dabei leider noch ein Thema, in dem viele Fehlannahmen die Runde machen. Wenn ich sehe, was da v.a. in Schulen falsch gemacht wird, wird mir ganz anders. 

Lehrer werden nicht darauf vorbereitet, dass es verschiedene Arten zu lernen gibt. Stattdessen wird alles, was vermeintlich nicht „normal“ ist, pathologisiert. Ich nehme an, das sind dann die Stereotypen, über die Du forschst? Inwiefern verhalten sich Lehrer anders, wenn sie glauben, dass ein Schüler einem ihrer Stereotypen entspricht?

Dr. Meike Bonefeld

Genau, auch das kann man dort einordnen. Erst einmal ist es mir wichtig zu sagen, dass Stereotype ein menschliches Phänomen sind und keines was sich auf die Gruppe der Lehrkräfte beschränkt. So beeinflussen sie uns alle in unserem Alltag und in ganz verschiedenen Situationen und das oft unbewusst. Dabei müssen wir nicht unbedingt bewusst daran glauben, dass ein Stereotyp zutrifft, manchmal reicht es auch einfach wenn ein Stereotyp in der Gesellschaft sehr präsent ist und wir häufig davon hören. 

Ich gebe einfach mal ein Beispiel aus meinem Forschungsbereich:

Nehmen wir an in der Gesellschaft herrscht das Stereotyp vor, dass Kinder mit Migrationshintergrund nicht besonders gut in der Schule sind. Dann hören wir auch noch von PISA-Befunden, die uns suggerieren, dass Kinder mit Migrationshintergrund in Leistungstest schlechter abschneiden und lesen ganz allgemein in Medien viel darüber. Vielleicht kennen wir auch ein Kind mit Migrationshintergrund, das wirklich nicht so gut in der Schule abschneidet. All diese Informationen haben wir, ob wir an sie glauben oder nicht, im Hinterkopf, und das wiederum kann uns unbewusst beeinflussen.

So ist es also auch bei Lehrkräften. 

Auch Sie sind natürlich, wie alle Menschen, nicht frei von eigenen Erfahrungen und Stereotypen, und haben so bestimmte Informationen, die sie in ihrem Umgang und in ihrer Beurteilung von Schüler*innen beeinflussen können. Das kann – und jetzt komme ich auf deine eigentliche Frage zurück – sich ganz unterschiedlich ausdrücken. 

Einerseits kann es sein, dass sie Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund ganz einfach schlechter beurteilen. Bisherige Forschung konnte zeigen, dass Lehrkräfte durch ihre Stereotype bei der Leistungsbeurteilung beeinflusst sind und bspw. ein Kind mit Migrationshintergrund im Vergleich zu einem Kind ohne Migrationshintergrund eine schlechtere Note für die gleiche Leistung erhält. 

Andererseits,können sie aber auch die tatsächliche Leistung der Schüler und Schülerinnen beeinflussen. Stereotype (und damit verbundene Erwartungen an die Schüler und Schülerinnen) können dazu führen, dass Lehrkräfte die Kinder unterschiedlich stark fördern. Das kann schon im Kleinen und teilweise mit guter Absicht passieren, z.B. indem man Kindern, von denen man annimmt, dass sie ein geringeres Leistungsniveau haben, nur sehr leichte Aufgaben gibt, oder sie seltener aufruft (ggf. mit dem Hintergedanken sie nicht bloßstellen zu wollen). So haben diese Kinder auch weniger Lerngelegenheiten und können ihre Potentiale nicht in gleichem Maße entfalten, wie es Kinder können, von denen man annimmt, dass sie ein höheres Leistungsniveau haben. 

Und hier zeigt sich, wie wichtig Lehrkrafturteile sein können: Sie bilden die Grundlage zur Gestaltung des Lernumfeldes, und der Lernerfolg von Schüler*innen ist umso größer, je mehr die Lernumgebung an Vorwissen anknüpft. Hieraus wird auch deutlich, dass auch umgekehrt ein Schuh draus wird: Wenn man fälschlich deutlich zu hohe Leistungserwartungen an Schüler und Schülerinnen hat, kann es auch zu Überforderung kommen. Die Annahmen zu Stereotypen oder vielleicht etwas breiter gesagt “Erwartungen” sind also nicht nur für eine bestimmte Schüler*innengruppe (z.B. Schüler*innen mit Migrationshintergrund) relevant sondern auch für individuelle Schüler*innen. 

Wie du auch berichtest können so auch Faktoren wie Hochbegabung oder die Zugehörigkeit zum Autismus-Spektrum mit verschiedensten Stereotypen verknüpft sein. Hier finde ich besonders spannend, dass sowohl positive als auch negative Stereotype vorhanden sein können – je nachdem, auf welche (Lebens-)Bereiche man sich gerade fokussiert.

Gerade auch aus der Beschreibung der Erkenntnisse, die du mittlerweile über deine ganz eigene Person gewonnen hast, geht aus meiner Sicht hervor, wie wichtig es ist die Schüler und Schülerinnen individuell zu sehen und sie nicht in Schubladen zu stecken. Aber hier müsste man fairerweise über den Tellerrand schauen und die Umstände in Schulen berücksichtigen. Häufig ist das ganz sicher kein leichtes Unterfangen für Lehrkräfte.

Du hast angedeutet, dass du Fehlannahmen und auch Fehlverhalten an Schulen beobachtest. Was sind hier aus deiner Sicht denn die Fehlannahmen, mit denen man ein für alle mal aufräumen sollte, und wo siehst du die drängendsten Herausforderungen?

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Naja, da wären zunächst mal die guten alten Geschlechterstereotype: Mädchen können besser Sprachen, Jungs besser Naturwissenschaften. Mädchen können besser turnen, Jungs Fußball spielen.

Dann die des Bildungshintergrunds: Das Professoren- oder Arztkind ist intelligenter als das Arbeiterkind, das Lehrerkind intelligenter als das Kind vom Hausmeister.

Die der körperlichen Eigenschaften: Ein rollstuhlfahrendes Kind bremst die Klasse von Fußgängerkindern aus, das Kind ohne Hände muss ein schlechterer Schüler sein als das mit Händen. Dicke Kinder kommen aus sozial schwachen Familien und sind weniger intelligent als dünne Kinder. 

Selbst Menschen mit Behinderung untereinander stereotypisieren: Wer sprachbehindert ist, kann nicht so intelligent sein wie jemand, der sprechen kann, wer Spastiker ist, nicht so wie ein Querschnittgelähmter. Und Autisten sind alle nonverbal, haben keine Gefühle und sind hochbegabt. 

Die drängendste Herausforderung ist meines Erachtens, jedes Kind in seiner Einzigartigkeit zu fördern. Warum nicht auch, indem man die Kinder zusammen lernen lässt statt einzeln in Konkurrenz zueinander. Sie können sich nämlich wunderbar gegenseitig helfen, dazu braucht es nicht immer den Lehrer. Dann ist der entlastet, die Kinder lernen, was gleichberechtigtes Miteinander bedeutet, und fürs Leben statt nur für Prüfungen.

Macht es bitte wie in Finnland und unterrichtet Themen, nicht Fächer. Denn da lernt man das Zusammenarbeiten, wo sich jeder nach seinen Fähigkeiten einbringen kann, und am Ende hat man zusammen etwas geschafft. Vergesst endlich Noten, die sind völlig subjektiv. Ich hatte in jedem Fach, in dem ich wechselnde Lehrer hatte, jedesmal andere Noten. Je nachdem, wie gut ich mit dem Lehrer klarkam (und umgekehrt). 

Beurteilungen, egal ob durch Noten oder durch Worte, können solche Narben hinterlassen. Vor einiger Zeit habe ich mit einer Schulkameradin gesprochen, die nach der 10. Klasse aus einer Schule in einer ländlichen Nachbargemeinde zu uns ins Gymnasium in die Stadt kam, um dort mit uns Abi zu machen. Offenbar hatte sie ein Lehrer nur wegen ihrer früheren Schule (Stereotyp „unsere Schule ist besser“) immer wieder so fertig gemacht, dass es sie bis heute verfolgt. 

Wie kann man nun Stereotype in der Schule vermeiden? Welche Möglichkeiten haben sich denn da bislang bei Deinen Forschungen ergeben?

Dr. Meike Bonefeld

Da bin ich ganz bei dir. Ich finde das verdeutlicht, dass Stereotype einfach so breit gefächert sind und uns alle irgendwo betreffen. Die Stereotype, die du nennst sind ja nur einige.

 Ich denke, es gibt zwei Ansatzpunkte um Stereotype zu vermeiden. Zunächst einmal ist es wichtig, den Einfluss von Stereotypen auf Beurteilungen zu verhindern oder zumindest weitestgehend zu minimieren. Hier helfen in einem ersten Schritt beispielsweise objektive Bewertungsraster. Das heißt bspw. klare Setzungen für wie viele Fehler welche Note vergeben wird oder auch ein Erwartungshorizont der mit solch einem Bewertungsraster gekoppelt ist. So würde schon einmal für (objektiv) gleiche Leistung gleiche Noten vergeben. Das löst einige Probleme, die du angesprochen hast natürlich noch nicht und diese objektive Betrachtung macht es ganz besonders nötig, die Schüler und Schülerinnen trotzdem noch individuell abzuholen (bspw. durch Kommentierung der Klassenarbeiten und ganz klaren Angaben “wo kannst DU ansetzen? Wo kannst DU weiter üben. Was hast DU schon gut gemacht” mal ganz unabhängig davon welche Zahl unter der Arbeit steht).

Außerdem ist es wichtig Lehrkräfte noch besser darin zu schulen Leistung auch adäquat abbilden zu können und ihre diagnostische Kompetenz zu stärken. So ist es wichtig, dass sie Leistungsniveaus auch ädaquat abbilden können, denn daran knüpft ja wiederum an wie sie die Kinder fördern und mit ihnen weiter arbeiten. 

Diese beiden Faktoren, also Hilfsmittel, wie objektive Bewertungsraster und eine Stärkung der diagnostischen Kompetenz von Lehrkräften, können den Einfluss von Stereotypen auf Urteile reduzieren, aber weg sind sie dadurch noch lange nicht, und wie ich schon erwähnt hatte, können sich Stereotype und Erwartungen ja auch subtiler äußern. Zum Beispiel  in dem wir Kinder unterschiedlich stark fördern oder Lerngelegenheiten bieten. 

Deswegen ist ganz klar, dass es am schönsten wäre, wenn wir Stereotype generell abbauen könnten. Hier steht die Forschung, die ich kenne, bislang aber noch vor dem Problem, dass Stereotype sehr hartnäckig sind. Klar, wir haben sie ja auch früh gelernt und sind mit ganz vielen Vorannahmen aufgewachsen und schon unser ganzes Leben lang konfrontiert. Das muss man erst einmal knacken. 

Was hier helfen kann, ist in einem ersten Schritt das Bewusstsein, dass man Stereotype auch selbst hat und nicht immer nur die anderen. Ich denke, das ist fast der essentiellste Schritt, denn sobald man zu diesem Bewusstsein gelangt ist, kann man sich viel leichter beobachten und dann zum zweiten Schritt kommen: reflektieren und hinterfragen. Passt diese Person wirklich in die Schublade, in die ich sie gerade stecke? Oder stimmt das vielleicht gar nicht alles, was ich denke, und ist in diesem Fall anders? 

Und wenn ein Stereotyp dann doch mal zutrifft, auch einfach hinzunehmen, dass es eben auch manchmal stimmt, aber weiterhin offen zu sein, dass es bei der nächsten Person auch wieder ganz anders sein kann. Wenn wir hier offen und flexibel im Denken bleiben, dann ist schon einiges gewonnen. 

Und im letzten Schritt: interessiert bleiben und gut zu einem selbst sein. Klar, leiten uns Stereotype und das werden wir auch nicht so schnell “verlernen”, aber wir können “aus ihnen lernen” und Momente in denen wir sie bemerken oder in denen Menschen uns auf sie hinweisen als Lerngelegenheiten wahrnehmen und ganz viel (hinter-)fragen. 

Und natürlich können wir  selbst auch diese Menschen sein und andere immer wieder freundlich auf ihre Stereotype hinweisen. Hierbei ist es wichtig, sich nicht über die Personen zu stellen, denn Stereotype haben wir alle irgendwo, sondern einfach Gegenbeispiele zu nennen oder aufzuzeigen und nicht aufzugeben, wenn wir dabei auf Personen stoßen, die nicht so offen sind und eher abwehrend reagieren. Wenn wir in ein paar Prozent der Fälle jemanden zum Nachdenken anregen (und das kommt meist sowieso erst später und wir merken es gar nicht direkt) dann haben wir schon viel beigetragen.

Spannend finde ich auch deine Anmerkung, dass wir Noten vergessen sollten. Das Thema treibt meine Studierenden auch häufig um und wir diskutieren in meinen Seminaren auch viel darüber, welche Funktionen sie in unserer Gesellschaft einnehmen und dass das auch wieder ein spannendes Thema ist: wie können wir unsere Gesellschaft so strukturieren, dass Noten beziehungsweise Bewertungen in ihrer Platzierungsfunktion an Wichtigkeit verlieren? Wen müssen wir da ins Boot holen und wo können wir anfangen (vielleicht auch im Kleinen?)? Das sind jetzt fast schon philosophische Fragen…

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Ich denke, es ist wichtiger, was man gern tut, wo die eigenen Begabungen liegen und wofür man motiviert ist. Deswegen auch das Unterrichten von Themen statt von abgegrenzten Fächern. Ich erinnere mich an fächerübergreifende Seminare an der Uni, die gerade deswegen besonders Spaß gemacht haben oder an Projektwochen in der Schule. Wenn sich jeder nach seinen Begabungen einbringen kann oder auch erst mal rausfinden kann, wo die liegen, wird man weniger Frustration erfahren und vielleicht eher auch mal denen zuhören, die aus einer anderen Richtung an die gemeinsame Sache herangehen. Und wie kann man dann die verschiedenen Beiträge vergleichbar werten? Geht es nicht eher darum, was bei einem Projekt heraus gekommen ist und was die Teilnehmer dabei Neues mit- und voneinander gelernt haben?

Wen muss man dafür ins Boot holen? Das ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt. Die Menschen müssen sich klar werden, dass es noch andere Lebenskonzepte als die Leistungsgesellschaft gibt, dass das Miteinander wichtiger ist als Wohlstand und Wachstum einzelner auf Kosten der anderen. 

Bildungseinrichtungen, die zuständigen Ämter und Ministerien müssen umdenken und den Unterricht sowie die Lehrerausbildung entsprechend verändern, so dass Kinder und Menschen überhaupt erst mal herausfinden können, wo sie in ihrem Element sein können. Unternehmen und Organisationen sollten Menschen aufgrund ihrer Begabungen und Motivation einstellen, vielleicht sogar nur projektweise. Letzteres passiert ja bereits in einigen Branchen. Daran hängt dann auch das ganze Konzept von Erwerbsarbeit versus Tätigkeit und z.B. so etwas wie einem Grundeinkommen. 

Jedenfalls kann es so wie bisher nicht weitergehen. Das kommt ja nun auch durch die Pandemie deutlich zum Vorschein. Wer kapiert das jetzt und leitet die entsprechenden Schritte ein und wer macht den Leuten vor, man könne möglichst bald bequem so weitermachen wie vorher? 

Wie hat Sir Ken Robinson so schön gesagt? Wir müssen aufhören, Kinder ausschließlich zu Professoren erziehen zu wollen, die ihren Körper nur als Transportmittel für ihren Kopf brauchen und davon vorwiegend nur eine Hirnhälfte. In seinen Vorträgen und Veröffentlichungen führt er ja viele Beispiele an, wie es aussieht, wenn jemand in seinem Element ist, und wie oft Schulen das nicht erkannt oder sogar ausgebremst haben.

Lernen sollte nicht mehr als ein zeitlich begrenztes notwendiges Übel zum Erreichen von Abschlüssen vermittelt werden, sondern als ein lebenslanger praxisorientierter Prozess, der spannend ist. Nicht Angst, Frustration und Stress verursacht, sondern dazu da ist, sich selbst und die Welt entdecken. Und dabei ist Diversität kein Hindernis, sondern notwendige Voraussetzung.

Was denkst Du, wie wir zu einem besseren Umgang mit Lernen und (Aus-)Bildung kommen können?

Dr. Meike Bonefeld

Das ist eine spannende Frage, die ich mir auch häufiger stelle. Ich glaube wir müssen einerseits Schritt für Schritt Neues wagen und kleine Veränderungen angehen und gleichzeitig aber auch “groß denken” und Visionen zulassen. Es ist einfach schwierig ein so lange bestehendes System von heute auf morgen zu ändern. Aber wir ändern auf jeden Fall nichts, wenn wir uns vor dieser Herausforderung scheuen und neue Ideen immer gleich ablehnen.

Ich denke wir können außerdem den tollen Initiativen, die es schon gibt mehr Gehör schenken. Gerade auf Twitter, wo wir uns ja auch kennengelernt haben, gibt es ein riesiges Potential und ich nehme Twitter manchmal als großen think tank wahr- gerade im Bereich Bildung und Schule.

Mit “wir” schließe ich eigentlich alle ein: von Lehrkräften, Eltern und Schüler*innen über Wissenschaftler*innen, Politiker*innen hin zu Unternehmen und Institutionen. Eigentlich müssen wir denke ich überall strukturelle Veränderungen schaffen und offen für neue (Lebens-)Wege sein. Dann kann man Lehren und Lernen auch neu denken und wie du ja auch schon vorschlägst themenbasierter und übergreifender arbeiten. 

Ich fände es schön, wenn stärker betont würde, dass jede und jeder seine persönlichen Stärken hat, jede und jeder diese auch entdecken kann und dabei unterstützt wird. Zu guter letzt sollte dann natürlich auch jede und jeder die Gelegenheit bekommen diese Stärken einzusetzen. Dazu brauchen wir aber sicherlich noch einiges an Umdenken und vor allem weniger Schubladen, um die individuellen Stärken auch wirklich sehen zu können.

Was meinst du? Wenn wir all unsere Gedanken so zusammen nehmen, könnte Lernen doch auch schön, individuell und kreativ sein oder?

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Ich denke, Lernen ist immer individuell, nur die Wissensvermittlung eben nicht. 

Wie soll man alle an einen Tisch bekommen und ein Umdenken initiieren? Da hängt ja so viel mit dran: Familiengeschichten, Arbeitssituationen, Wirtschaft, Politik…  

Man sieht ja, wie zäh das allein beim Thema Digitalisierung läuft. Viele denken immer noch, das sei nur eine Frage der Ausstattung mit Geräten. Dass wir mitten in einem heftigen Kulturwandel stecken, wollen sie nicht wahrhaben. 

Dabei sind digitale Plattformen natürlich wunderbare think tanks. So war das ja auch mal früher gedacht: das Internet als Ort des globalen Austauschs zum Teilen von Wissen und gemeinsamen Weiterdenken. Nicht als Kommerz-Jahrmarkt für Werbung, Hater, und fake news. (Übrigens eines meiner Lieblingsthemen in dieser Reihe.)

Davide Brocchi hat in anderem Zusammenhang den schönen Satz gesagt: „Die Veränderung wird kommen. Die Frage ist nur, kommt sie by design or by desaster?“ Was glaubst Du?

Dr. Meike Bonefeld

Das, an was ich diesbezüglich glaube, ist stark von der Tagesform und vom Weltgeschehen abhängig. An manchen Tagen spüre ich den Funken in der Gesellschaft und habe den Eindruck jetzt bricht das Feuer aus und wir können per “design” die Welt verändern und alle an einem Strang ziehen. Dann kommen allerdings auch wieder Momente, in denen ich auf die vorangegangene Zeit zurückschaue und enttäuscht bin, dass vieles was breit diskutiert wurde, in dieser schnelllebigen (medialen) Welt schon wieder in Vergessenheit geraten ist. 

Aber nach der ersten Enttäuschung bestärkt mich das nur, dass diejenigen, die sich die Veränderung wünschen weiterhin laut sein müssen und die Themen immer wieder aufs Tableau bringen müssen. Das kostet auch ganz schön viel Kraft und man sollte gewiss auch zwischendurch auf sich acht geben, aber ich denke die Investition zahlt sich aus. 

Am Ende komme ich zu dem Schluss, dass die Wahrheit wohl wie so oft irgendwo dazwischen liegt: “desaster” lösen den Diskurs oft aus und dann geht es “by design” weiter. Und das Ganze wiederholt sich vermutlich bis zum Ende unserer Zeit, denn wenn wir mal ehrlich sind, sind wir vermutlich nie “fertig” und das ist ja auch irgendwie das Schöne: die Welt ist zum Verändern da und steht nie so ganz still.

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Was für ein schönes Schlusswort! Vielen lieben Dank noch einmal, dass Du Dich zu diesem Bloggespräch bereit erklärt hast. Das war wirklich toll! Gerne wieder. 🙂

Über meine Gesprächspartnerin

Dr. Meike Bonefeld

Dr. Meike Bonefeld ist Wissenschaftlerin im Bereich der Bildungsforschung und Gründerin sowie Leiterin des Wissenschaftlerinnen-Netzwerks WUMAN. Zu ihren Leidenschaften gehört es Menschen kennenzulernen und sie miteinander zu vernetzen- am besten, um die Welt Stück für Stück zu verändern, und Wege zu finden, sie gerechter zu gestalten.

Foto von Meike: Manuel Grünewald
Illustration von Annette: tutticonfetti

In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.


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