Zurück zu den Wurzeln – Ein Bloggespräch mit Andrea Kamphuis

Es gibt Menschen, denen folgt man schon eine halbe Ewigkeit und sie einem zurück, ohne dass man sich wirklich erinnert, wie das mal angefangen hat. Ich vermute, dass es bei meiner heutigen Gesprächspartnerin auf Twitter passiert ist, denn da begegnen wir uns virtuell am häufigsten und dort habe ich sie auch angesprochen, ob sie mit mir ein Bloggespräch führen möchte, für das sie passenderweise das Thema „back to the roots“ vorgeschlagen hat. Na, dann mal los!

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Hallo, Andrea! Danke, dass Du bei meiner Gesprächsreihe mitmachst! Wir haben ja einige gemeinsame Themen, von Büchern bis Gesundheit. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir uns hier endlich auch mal näher austauschen können. Kannst Du Dich noch erinnern, wie und wann wir online zusammengefunden haben, und wie bist Du auf das Thema für dieses Gespräch gekommen?

Wiederannäherungen

Andrea Kamphuis

Hallo, Annette! Über deine Anfrage habe ich mich gefreut, denn die Gesprächsreihe gefällt mir sehr. Für viele Blogs bin ich derzeit zu unkonzentriert, aber die Dialoge ziehen einen einfach mit und lösen eine Menge Erinnerungen, Assoziationen und Reflexionen aus. 

Ich weiß auch nicht mehr, wann und wo wir uns im Netz begegnet sind. Es könnte irgendein regionales Social-Media-Event oder Barcamp gewesen sein, über das wir beide getwittert haben – auch wenn du, glaube ich, nicht vor Ort warst. Kurz danach habe ich mir einen Facebook-Account zugelegt, und da hat mir dein Fachwissen die Orientierung erleichtert. Irgendwann waren wir bei Facebook vernetzt, wo ich dich z. B. auch als begeisterte Fotografin erlebt habe. Inzwischen bin ich da wieder weg; den Umgang von Facebook mit den Nutzerdaten fand ich nicht mehr akzeptabel. Schön, dass wir uns dank Twitter nicht aus den Augen verloren haben!

Einige Themen, die sich für ein Bloggespräch angeboten hätten, hast du mit anderen Gesprächspartnerinnen oder -partnern schon abgehandelt. Also habe ich die Jahre 2019 und 2020 Revue passieren lassen, und da kristallisierte sich als roter Faden eine Wiederannäherung an alte Leidenschaften, aber auch politische Standpunkte und Aktivitäten heraus. Dass ich Mitte der 1980er nach dem Abi angefangen habe, Biologie zu studieren, lag an einem brennenden Interesse an der Ökologie. Und das ging schon damals einher mit Sorgen über die Folgen unserer nicht nachhaltige Wirtschaftsweise – für die Natur und für kommende Generationen. 

Jetzt bin ich bei den Scientists for Future aktiv und versuche mit meinem Freund, aufs Fliegen, Autofahren und Fleisch zu verzichten. Autos fand ich schon mit 17, 18 so furchtbar, dass ich gar nicht erst den Führerschein gemacht habe. Aber ich habe natürlich davon profitiert, dass Menschen in meinem Umfeld Autos hatten. Und genau, wie ich als Jugendliche stundenlang alleine durch den Wald gelaufen bin, um belastende Situationen zu verarbeiten, finde ich heute wieder Frieden in der Natur. Zwischenzeitlich hatte ich all das etwas aus dem Blick verloren; jetzt schließen sich Kreise.

Als ich dich fragte, ob du mit “Zurück zu den Wurzeln” ebenfalls etwas anfangen kannst, fiel dir gleich eine Leidenschaft von früher ein, die du in veränderter Form wieder aufgenommen hast: Briefwechsel! Was hat es damit auf sich, was reizte und reizt dich daran?

Menschen und Gespräche

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Ich fand es schon immer spannend, andere Menschen und deren Geschichte(n) kennenzulernen. Als ich noch jung war, gab es aber kein Social Media. Stattdessen konnte man sich bei Organisationen melden, die Brieffreundschaften in alle Welt vermittelten. Auf Briefe aus Südamerika, Australien oder Asien musste ich allerdings viele Wochen warten. Als Zeitungsmitarbeiterin und in der Öffentlichkeitsarbeit habe ich interessante Menschen interviewt. Das war aber immer einseitig und man hatte keine Zeit für ein echtes Gespräch. Heute bin ich mit Menschen auf der ganzen Welt in Echtzeit in Kontakt, ohne noch darüber nachzudenken. 

Mit meinen Bloggesprächen hier bringe ich das alles zusammen. Es findet online in einem kollaborativen Dokument statt und als gegenseitiger Austausch, der jedoch entschleunigt ist. Hier dauert es oft mehrere Tage bis eine Antwort und meist mehrere Wochen bis ein Gespräch fertig ist und veröffentlicht werden kann. Das Format wirkt dabei nicht nur in der Entstehung für die Gesprächspartner entschleunigend, sondern wegen der Länge und weil es nur Text ist auch beim Konsumieren für die Leser. Das ist vielleicht nicht jedermanns Sache, aber ich mag es. Zum einen weil ich wieder Menschen näher kennen lerne, zum anderen weil Schreiben mein bevorzugtes Ausdrucksmittel ist.

Aber vom Techbloggen und der Erklärbärerei habe ich mich wieder abgewandt. Das war nie das, was ich wirklich machen wollte. Durch meine ersten Blogbeiträge über Facebook bin ich da reingerutscht und es hat sich explosionsartig verselbständigt. Ich brauchte mehrere Jahre bis ich den Mut fand (und erschöpft genug war), das zu beenden und dahin zurück zu finden, was mich wirklich interessiert: Menschen und Gespräche. Jetzt aber nicht mehr auf Papier, sondern online und das nicht mehr nur zu digitalen Themen.

Die Besinnung „zurück zu den Wurzeln“ kann ich jedem nur empfehlen, der mit seiner gegenwärtigen Situation unglücklich ist. Wie siehst Du das? Würdest Du das auch anderen raten und warum?

Zurück zur Natur mit modernen Mitteln

Andrea Kamphuis

So, wie du es formuliert hast, ja. Es ist wohl typisch für mich, dass mir gleich mehrere “Abers” in den Sinn kommen. Erstens ist das wohl eine Frage der Lebensphase. Jungen Menschen, die gerade aufbrechen, kommt man besser nicht mit der Devise “Zurück zu den Wurzeln”, will man nicht als alte Schachtel dastehen – auch wenn man gar keine Nostalgie verbreiten will. 

Zweitens fallen die Selbstreflexion und die Veränderungen, die daraus womöglich folgen, privilegierten Menschen halt leichter als solchen, die jeden Tag rödeln, um über die Runden zu kommen. Dass ich mich erst jetzt wieder ökopolitisch engagiere und meine Natur-Bloggerei ausbauen konnte, hängt sicher mit der unbefristeten halben Stelle zusammen, die ich seit einigen Jahren habe. 

Drittens ist nicht alles positiv, zu dem ich zurückkehre – oder das zu mir zurückkehrt. Eigentlich ist es doch zum Schreien, dass wir immer noch gegen eine zerstörerische Wirtschaftsweise und für Nachhaltigkeit kämpfen müssen. Das hätte vor vierzig Jahren passieren müssen. 

Was ich regelrecht bestürzend fand, als ich mich wieder der Naturbeobachtung zugewandt habe, war mein erodiertes Wissen: Als Jugendliche habe ich mehr Pflanzen und Tiere auf Anhieb benennen können als vor zwei Jahren. Selbst im Biologiestudium spielten Ökologie und Artenkenntnis kaum eine Rolle. Ich muss das alles neu lernen. Zum Glück macht mir Lernen mächtig Spaß, nicht zuletzt dank neuer Werkzeuge. Ich habe verschiedene Bestimmungs-Apps ausprobiert und bin bei iNaturalist hängen geblieben. 

Da gefällt mir die Kombination aus einer ziemlich guten KI einerseits, die die eigenen Fotos mit einer riesigen Datenbank abgleicht und Bestimmungsvorschläge macht, und einer weltweiten Community andererseits, die die eingereichten Bestimmungen sichtet und korrigiert. Ein tolles Citizen-Science-Projekt, bei dem Geben und Nehmen in einem guten Verhältnis stehen. 

Die Entschleunigung, die du als Effekt der Bloggespräche beschreibst, erlebe ich übrigens nicht nur in der Natur, sondern auch in der Küche. An eine lukullische Tradition kann ich dabei nicht anknüpfen: In der Familie gab es keine guten Köchinnen, und durch die Kriegs- und Nachkriegszeit waren viele Zutaten bei meiner Mutter verpönt – etwa alle Kohlsorten und Hülsenfrüchte. Die entdecke ich jetzt, gerne mit indischem oder mediterranem Einschlag. Und ich mache Pasta. So einen Teigballen kneten – herrlich, da fällt der Stress von mir ab! Wie ist das bei dir: Findest du auch in der Küche zurück zu den (Schwarz-)Wurzeln?

Nachhaltigkeit bei Oma

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Ja, definitiv. Schwarzwurzeln gehören allerdings nicht dazu. 😉 Es geht vielmehr um die donaudeutsche Küche meiner Oma und dabei nicht nur um die Gerichte, sondern auch um den verantwortungsvollen und saisonalen Umgang mit Nahrungsmitteln. 

Bei den Gerichten kommt hinzu, dass mein Mann sie nicht mehr live von Oma erleben konnte, sondern sie jetzt durch mich entdeckt – und begeistert ist. Angefangen haben wir mit so einfachen Sachen wie „Debbsgrumbiere mit Bauchspeck“ und „Gfilltem Hinkel“ oder Gulasch „mit Kneedelcher“ (kleine Mehlklöße).

Bei ersterem handelt es sich um Kartoffelscheiben, die auf einem Blech gebacken werden bis sie so zwischen Bratkartoffeln und Chips sind. Oma hat das natürlich auf einem mit Gänseschmalz gefetteten Blech gemacht, während wir stattdessen Backpapier und Olivenöl benutzen. Die nicht zu dicken Bauchspeckscheiben werden indes mit Salz, Pfeffer und Kräutern gewürzt, scharf angebraten und zum Schluss mit einem guten Schnaps abgelöscht. Wer es verträgt, kann auch noch ein bisschen Knoblauch mit in die Pfanne geben. Die in der Pfanne verbleibenden Reste aus Gewürzen, Fleischsaft und Fett werden nachher noch mit Brot aufgesogen und extra gegessen. Oma sammelte solche Reste auch in einer Tasse und bewahrte sie im Kühlschrank auf, damit man sie wie Griebenschmalz auf Brot zum Abendessen kalt verzehren konnte. Es wurde nichts verschwendet.

Das „gefillte Hinkel“ ist ein Huhn, das mit einer Mischung auf Brotwürfeln, Ei, Milch, Petersilie (und ggf. gedünsteten Zwiebeln) gefüllt und in einem offenen Bräter mit gewürfelten Kartoffeln umgeben kross gebacken wird. Es gab aber auch fleischlose Gerichte wie Dampfnudeln oder „Grumbeere unn Nudel“ mit selbst eingelegtem Obst. (Marmelade und Kompott wurde selbstverständlich selbst gemacht!) Aber an eigentlich vegetarische, also hauptsächlich aus Gemüse bestehende Gerichte, kann ich mich nicht erinnern. Sobald Gemüse ins Spiel kam, war Fleisch dabei. Ohne Fleisch wurde es hingegen immer süß. Halt! Außer an Gründonnerstag mit Spinat, Ei und Kartoffeln. 🙂

An einige ihrer Backrezepte haben wir uns inzwischen herangetraut, aber eins steht noch aus: Gezogener Strudel! Das ist eine Wissenschaft für sich und muss unbedingt mit Gänseschmalz gemacht werden. Genauso wie man Dampfnudeln nur mit Butterschmalz richtig hinkriegt. Alles nach heutigen Standards nicht wirklich gesund. Aber in Ergänzung zu unserer sonst eher modernen und vorwiegend vegetarisch geprägten Ernährungsweise eine wunderbare Abwechslung, bei der ich jedesmal Tränen in die Augen kriege. 

Was erinnert Dich an Deine Kindheit und Jugend und sind da Wurzeln dabei, zu denen Du gern ab und zu zurückkehrst?

Abschalten beim Wühlen in der Erde

Andrea: Oh ja! Zum einen kann man auch an objektiv furchtbares Essen schöne Kindheitserinnerungen haben. Man reiche mir zu Fasern zerfallenes Rindfleisch in dunkelbrauner Sauce mit zerkochten Kartoffeln und warmem Apfelmus aus dem Glas, und ich sitze wieder bei meinen niederländischen Großeltern am Tisch und freue mich auf den Nachtisch: Fertig-Vla aus der Milchflasche. 🙂 

Meine Oma war wirklich keine gute Köchin, aber ihren Deventer Koek – einen feuchten, dunklen, stark gewürzten und mit kandierten Früchten versetzen Honigkuchen – finde ich auch im Rückblick noch großartig, ebenso die dicken Spekulatius-Brocken, die es um das wichtige Nikolausfest herum gab. Mir kommt jetzt erst der Gedanke, dass sie den Umgang mit exotischen Gewürzen vielleicht dank meiner Urgroßmutter beherrschte, die einen Kolonialwarenladen hatte. Die Spezereien aus den Kolonien haben etwas Raffinesse in die kleinbürgerliche niederländische Küche gebracht. 

Den dicken Spekulatius, teilweise mit einer Marzipan-ähnlichen Mandelmasse gefüllt und unbedingt mit blanchierten Mandeln belegt, backe ich ab und zu nach, mit einer selbst gemörserten Gewürzmischung. Dieser Duft! Auch dicke Apfelpfannkuchen, Speck- oder Käsepfannkuchen zählen zu den gut gepflegten niederländischen Familientraditionen. 

Der andere Familienzweig ist im Krieg aus Posen geflohen; da habe kulinarisch wenig übernommen. Mit Schmalz und Leber konnte man mich früher jagen. Sowohl Omi als auch Mutti waren berufstätig und haben eher lustlos gekocht. Was ich dagegen von meiner Mutter – wenn auch spät – übernommen habe, ist das erholsame Werkeln im Garten. Sie war ebenso ein Kopfmensch wie ich, und vermutlich konnte sie nur beim Wühlen in der Erde so richtig abschalten. 

Als ich nach ihrem Tod den Garten übernahm, war mir das alles zu viel. Heute habe ich nur noch einen Balkon, aber auf dem baue ich sogar ein bisschen Gemüse an. Allein die vielen Insekten, die die Kürbis- oder Schnittlauchblüten besuchen, sind der Mühe wert! Dank einer Wurmfarm muss ich auch keinen Dünger mehr kaufen, kann die Erde mit dem Kompost wieder aufarbeiten und freue mich, dass unser Biomüll nicht mehr in die Restmülltonne wandert.

Es gibt aber auch Jahre, in denen mir im Frühling die Kraft dafür fehlt. Dann bleibt der Balkon eben kahl bis auf ein paar gekaufte Blümchen. Mir ist kürzlich ein Text von dir wieder eingefallen, der mich 2013 sehr angesprochen hat: “Deswegen”. Ich habe ja eine Autoimmunerkrankung und schreibe auch über das Immunsystem und seine Störungen. Mein Bewegungsradius war nie so eingeschränkt, wie du es in dem Text geschildert hast, aber dieses Haushalten mit der begrenzten Energie, dieses Portionieren der Löffelchen, das kannte und kenne ich gut. 

Besonders beeindruckend fand ich diese Stelle: “Je älter ich werde, umso weniger Lust und Kraft hab ich, deswegen zu herumzustreiten. Ich investiere meine Löffel lieber in produktivere Dinge.” Mein Eindruck ist, dass du viele produktive Dinge unternimmst, aber die Selbstwahrnehmung ist ja oft eine andere als der Blick von außen. Rückschläge und innere Kämpfe bleiben unsichtbar. Wie siehst du das heute, fast acht Jahre später? 

Sich mit Grenzen auseinandersetzen

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Ich versuche eigentlich, das immer wieder zu thematisieren und bekomme da auch meist positive Resonanz dazu. Nur die Menschen, die sich nicht mit dem Thema Begrenztheit auseinandersetzen wollen oder können (z.B. weil sie noch in einer posttraumatischen Phase festsitzen), reagieren gern mal abwehrend bis aggressiv. 

Ich selbst kenne das Gefühl nicht, sich für unverwundbar zu halten und einfach machen zu können, worauf man Lust hat. Ich musste eigentlich schon seit ich denken kann Löffel zählen. Deswegen sind mir Menschen, die nur auf Leistung oder egoistischen Fun aus sind, sehr fremd. Mir ist es wichtig, der Gemeinschaft etwas und Sinnvolles zu tun (und weil Du gefragt hast: Ich hab immer viel mehr Ideen als Kapazitäten, sie alle umzusetzen). Ich kann nicht begreifen, wie man nur an sich denken und auf andere und unser aller weiteres Wohlergehen auf dieser Erde pfeifen kann. Ich finde es extrem beängstigend, welchen Weg die Menschheit eingeschlagen hat, und frage mich, ob und, wenn ja, wie wir nochmal die Kurve kriegen. 

Was meinen persönlichen Weg angeht, habe ich seit dem von Dir zitierten Artikel viel über mich gelernt. Außerdem wurde meine Herzmedikation auf den neuesten Stand geändert und damit mein Radius wieder deutlich vergrößert. Ich kann mich jetzt zumindest wieder ein bisschen anstrengen und auch kleine Reisen unternehmen. Als ich nach 20 Jahren wieder in Paris am Seine-Ufer stand, bin ich emotional völlig zerbröselt vor Glück. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das nochmal für mich möglich wäre. Und auch die Tatsache, dass ich nach 20 Jahren, in denen ich die Sprache nur noch schriftlich oder zuhörend benutzt hatte, wie auf zerebralen Knopfdruck wieder fließend Französisch sprechen konnte, sobald mich jemand ansprach, war eine große Freude! 

Eine andere aufgrund der gesundheitlichen Situation verschütt gegangene Leidenschaft von mir, war das Fotografieren. Genauer gesagt das Portraitfotografieren. Auch da konnte ich wieder aktiv werden und habe gemerkt, wie sehr es mir gefehlt hatte. Als mich dann immer mehr Leute fragten, ob ich sie auch ablichten könnte, habe ich mir eine komplett neue Kameraausrüstung gegönnt. Die kam aber bislang erst einmal zum Einsatz – dank Corona… Ich kann nicht erwarten, sie endlich wieder zu nutzen! 

Gibt es Tätigkeiten von „früher“, die Dir besondere Freude bereiten und die Du nach der Pandemie wieder tun möchtest?

Erleben, wie der Funke überspringt 

Andrea Kamphuis

Als Erstes fiel mir ebenfalls das Reisen ein. Das wird aber nie mehr so sein wie früher. Erstens habe ich mein Lebenskontingent an Fernflügen wohl verbraucht. Zum Glück gibt es tolle Fern- und Nachtzugverbindungen, aber nach Indien oder Grönland (zwei Länder, die bei mir eine immense Sehnsucht auslösen) werde ich wohl nie wieder kommen. Da muss es reichen, die alten Fotos anzusehen und in Erinnerungen zu schwelgen. Zweitens bin ich einfach nicht mehr fit genug für mehrtägige Wanderungen mit schwerem Gepäck in einsamen Gebirgstälern: Das machen die verschlissenen Gelenke nicht mit. Also läuft es auf weniger strapaziöse Reisen hinaus, etwa mit dem Fahrrad. Das ist auch völlig in Ordnung so.

Ansonsten fehlt mir als eher introvertierter Person, die mit einem ebensolchen Eigenbrötler zusammenlebt, derzeit gar nicht so viel. Halt, doch: Vorträge halten! Diese Einteilung in “introvertiert” und “extrovertiert” erschien mir immer schon zu grob: Ich tue mich zum Beispiel schwer mit Smalltalk, habe aber große Freude daran, vor Dutzenden oder Hunderten von Fremden lebendige Vorträge zu halten, etwa über unser tolles Immunsystem und seine Störungen – oder darüber, woran man irreführende Bücher zum Klimawandel erkennt. 

Das ist live intensiver als online, und man erreicht andere Leute. Wenn das irgendwann wieder möglich ist, werde ich einerseits stöhnen unter dem irren Vorbereitungsaufwand, den ich meistens betreibe: Zeichnungen machen, Folien gestalten, die Länge einüben usw. Andererseits ist es einfach toll, wenn der Funke überspringt, wenn die Leute Fragen stellen und du regelrecht siehst, wie bei ihnen ein Groschen fällt: wie sie sich auf einmal einen Reim auf etwas machen können, das sie bisher verwirrt hat. Ja, darauf freue ich mich sehr. Oder mal wieder Freunde zum Essen einladen – und zum Reden.

Am Fotografieren hat mich die Pandemie zum Glück nicht gehindert, da ich – ganz Biologin – überwiegend Pflanzen und Tiere “portraitiere”. Die Portraits auf deiner Website strahlen eine große Entspanntheit aus: Offenbar fühlen sich deine Modelle wohl mit der Situation. Da habe ich im beruflichen Kontext schon das ganze Spektrum erlebt, von technisch sicher versierten Typen, bei denen sich die Menschen aber total verkrampfen, bis zu Fotografen, denen es in kurzer Zeit gelingt, dass die Menschen sich öffnen. Hoffentlich ist dir das bald wieder möglich! Wie bist du ursprünglich zur Portraitfotografie gekommen, und was macht für dich heute den Reiz aus? 

Ein Auge für Menschen

Annette gezeichnet von tutticonfetti

Das war eine ganz spannende Geschichte! Als ich noch in Speyer gewohnt habe, war im Nachbarhaus die Gästewohnung des Künstlerbunds, in der immer wieder neue Stipendiaten aus der ganzen Welt für mehrere Monate lebten und arbeiteten. Bei meiner Arbeit bei der Zeitung lagen sie auch in meiner Zuständigkeit. So kamen auch Freundschaften zustande, darunter eine mit dem israelischen Videokünstler Eli Wassermann. Als wir eines Abends zusammensaßen, bat er mich, ein paar Fotos von ihm für sein nächstes Projekt zu machen. Das hat mich so gepackt, dass ich auch noch meine Kamera geholt habe und noch mehr Fotos von ihm gemacht habe. Die haben dann andere gesehen und so weiter…

Es war natürlich Glück, dass ich eine professionelle Kamera griffbereit hatte. Ein anderer Nachbar (ja, das war eine mit Kultur vollgepackte Zeit!) war Fotograf und hat mir seine gebrauchten Kameras für wenig Geld überlassen. Denn bei der Zeitung fing damals schon das Sparen an. Wenn man also für den Text irgendwohin geschickt wurde, wo nicht gerade die „Großkopfeten“ involviert waren, durfte man das Fotografieren gleich mit erledigen. Mit den Bildern hatte dann zwar der Bildredakteur mehr zu tun, aber das interessierte nicht. 

So hab ich viel gelernt. Technisch hab ich zwar immer noch keine Ahnung, aber ich weiß, wo ich was wählen muss, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Und offenbar hab ich ein Auge für Menschen – so jedenfalls die Resonanz der Fotografierten. Als ich dann auch in Bonn, v.a. ab Sommer 2017, damit weiter machte, zog eine Session irgendwann eine neue nach sich, da ich das jedesmal verblogge. Neben dem privaten Gebrauch sind meine Fotos auch schon auf CDs und Künstler-Plakaten verwendet worden, als Pressefotos oder für Websites. 

Vielleicht bekomme ich Dich post-corona ja auch mal vor die Linse? Das würde mich freuen! Inzwischen danke ich Dir nochmal herzlich fürs Mitmachen hier in meiner Bloggesprächsreihe! Du hast das letzte Wort:

Andrea Kamphuis

Oh ja, eine Portait-Session in Bonn – sehr gerne. Mir hat das Gespräch viel Freude gemacht. Im Rückblick fällt mir auf, dass wir kaum über Berufliches im engeren Sinne gesprochen haben, aber das passt: Genau wie in den prägenden Zwanzigern sind mir außerberufliche Dinge, Genuss und gesellschaftliche Entwicklungen heute wieder wichtiger. Auch hier also: zurück zu den Wurzeln!

Über meine Gesprächspartnerin

Andrea Kamphuis ist Biologin und arbeitet in der Pressestelle eines Instituts an Erklärtexten, Tweets, Pressemitteilungen, Videos und Infografiken. Zuvor war sie freie Lektorin und Literaturübersetzerin. Sie bloggt über Naturphänomene und schreibt an ihrem zweiten Buch über die Biologie der Autoimmunerkrankungen.
Mit ihrem Lebensgefährten wohnt sie in Köln.
principia-magazin.de 

Foto von Andrea Kamphius: privat
Avatar von Annette: tutticonfetti

In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.


Diesen Beitrag weitersagen:

2 Antworten auf „Zurück zu den Wurzeln – Ein Bloggespräch mit Andrea Kamphuis“

Schreibe einen Kommentar zu Annette Schwindt Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert