Verständigung lernen – Ein Bloggespräch mit Renate Welkenbach

Nimmt die Bereitschaft zu echtem Dialog ab? Oder haben wir gar verlernt, uns wirklich miteinander auszutauschen und kommunizieren stattdessen nur noch oberflächlich bis hin zu Hasskommentaren und Hetze? Wie können wir lernen, einander wieder besser zuzuhören und echte Verständigung zu erreichen? Mit diesen Fragen kontaktierte mich meine heutige Gesprächspartnerin, als ich online wieder nach neuen Interessenten für diese Reihe fragte. 

Annette Schwindt

Es ist immer wieder spannend, wenn sich mir bis dahin unbekannte Menschen melden, um mit mir ein Bloggespräch zu führen. Und diesmal quasi über die Essenz des Formats selbst. Wie bist Du darauf aufmerksam geworden und was hat Dich dazu veranlasst mitzumachen?  

Den eigenen Horizont erweitern

Renate Welkenbach

Auf deine Bloggespräche bin ich via Twitter aufmerksam geworden. Als Einstieg habe ich zunächst einige der Beiträge gelesen und vor allem bei Christian, Andrea, Thomas, Gabriela und nicht zuletzt Anja spannende Überschneidungen zu „meinem“ Thema gefunden. Im Grunde bietet dieses Format genau das, was meinem Bedürfnis entspricht: Inspiration, Kooperation und neue Perspektiven, die durch den intensiven Austausch unterschiedlicher Sichtweisen gefördert werden. Deshalb freue ich mich schon jetzt auf die Erweiterung meines Horizonts durch Deinen Input und danke Dir schon jetzt dafür!

Damit bin ich auch gleich schon mitten im Thema: die aus meiner Sicht sinkende Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit neuen oder fremden Gedanken und zu echtem Austausch, egal ob on- oder offline. Nach meiner Wahrnehmung geht es zunehmend darum, sich voneinander abzugrenzen und das Schlimmste ist für mich die damit verbundene Abwertung von Andersartigkeit. Gleichzeitig werden auf der Metaebene die Vorteile der Vielfalt gepriesen. Mit ein bisschen Abstand sieht das alles schön bunt aus; und wenn es dann ans Eingemachte geht, kann Verschiedenartigkeit ganz schön weh tun.

Aber nur da kommen wir meiner Meinung nach weiter: Wenn wir bereit sind, uns dem Schmerz der konträren Bedeutungsperspektive zu stellen, erhöhen wir die Chance für neue Wege und Lösungen; und die werden in unserer komplexen Welt dringend gebraucht. Dazu brauchen wir die Bereitschaft, uns auf unser Gegenüber einzulassen. Zuzuhören, ohne gleich unseren Senf dazu zu geben. Die reine Wahrnehmung von der Bewertung zu trennen: Unterschiedliche Interpretationen gleichwertig anzuschauen, weder besser noch schlechter und eine so wahr wie die andere; eben einfach nur ANDERS. Vielfältige Bedürfnisse und Motivationen zu integrieren und uns WIRKLICH auseinanderzusetzen … und JA, das kann verdammt anstrengend sein!

Wie läuft in Deinem Alltag die Kommunikation mit anderen und wie gehst Du mit unterschiedlichen oder sogar konträren Positionen um?

Schrittweise annähern

Annette Schwindt

Für viele Menschen ist meine Art der Kommunikation sehr direkt und gerade Frauen fühlen sich dadurch oft angegriffen. Aber ich bin nunmal nicht in der Lage dazu, um etwas herum zu reden oder so zu tun als ob. Nicht weil ich das nicht wollte, sondern weil ich es schlicht nicht kann. Wenn ich es versuche, merkt der andere sofort, dass da was nicht stimmt. Und mir tut es auch nicht gut. Also habe ich aufgehört zu schauspielern. Ich komme also direkt zur Sache und sage dazu auch deutlich meine Meinung. Manche schockiert das und sie finden es zu anstrengend, andere sind begeistert, weil sie immer wissen, woran sie mit mir sind.

Grundsätzlich ist mir schriftliche Kommunikation zum Einstieg am liebsten, denn da sind die ablenkenden Reize minimal. Dann taste ich mich via Telefon und ggf. Videochat näher ran und wenn das gut funktioniert, treffe ich mich auch offline, das dann aber am besten in gewohnter Umgebung und wenn möglich mit meinem Mann als Anker dabei. Erst wenn ich jemanden näher kenne, treffe ich mich auch allein mit der Person. Größere Gruppen oder Menschenmengen überfordern mich, da ich nicht filtern kann. 

Ich führe also am liebsten Gespräche eins zu eins. Bei konträren Ansichten versuche ich mich hineinzudenken, warum die andere Person dieser Meinung ist, und stelle Rückfragen oder versuche zu argumentieren, um Erklärungen zu finden. Ich hinterfrage mich ständig. Nicht aus mangelndem Selbstbewusstsein, sondern um mich weiterentwickeln zu können. Meistens sind meine Rückfragen meinen Gegenübern aber zu anstrengend, z.B. weil ich damit Dinge anspreche, über die sie gar nicht nachdenken wollen. Viele Menschen sind Ehrlichkeit nicht gewohnt und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Sie sind so darauf eingestellt, etwas darstellen zu müssen, dass meine Art der Kommunikation sie komplett aus dem Konzept bringt. 

Wenn solche Menschen dann nicht in der Lage sind, ihren Standpunkt zu hinterfragen, und stattdessen mit direkter oder – noch schlimmer – passiver Aggression reagieren, bin ich raus. So kann keine Verständigung funktionieren. Wenn sie sich aber konstruktiv auf das Gespräch einlassen, dann kommt meistens etwas Spannendes dabei heraus, von dem wir beide etwas lernen. Manchmal entstehen so auch langfristige Freundschaften.

Ich kann andere doch nur dann wirklich kennenlernen, wenn ich mich wahrhaftig mit ihnen austausche. Bis vor Kurzem dachte ich noch, das sei doch völlig selbstverständlich. Ist es wohl aber für viele nicht. Das macht mir Angst. Wie kann man solche Menschen denn dann überhaupt erreichen?

Sich selbst hinterfragen

Renate Welkenbach

Das ist genau die Frage, die mich auch umtreibt … danke für Deine Sichtweise und Erfahrungen. 

Offensichtlich teilen wir beide das Interesse an Menschen; und so wie Du lege auch ich Wert darauf, andere durch intensiven Austausch wirklich kennenzulernen. Dazu gehört für mich auch der gebotene Respekt und ein gewisses Maß an Distanz, damit mein Gegenüber für sich selbst das jeweils passende Tempo und den Grad an persönlicher Informationstiefe bestimmen kann. Deshalb gefällt mir auch Deine ganz eigene „Kommunikationsstrategie“, die es Dir erlaubt, Dich schrittweise und passend zu Deinen Bedürfnissen anderen anzunähern; dieses Vorgehen bietet vielleicht auch für andere ein gutes Modell.

Ebenso verbindet uns das Bedürfnis, Fragen zu stellen und dabei vor allem das Hinterfragen der eigenen Person zur Positionsbestimmung und Weiterentwicklung zu nutzen; und ja, das wird manchmal als anstrengend bewertet – auch von mir selbst ;). Gleichzeitig lohnt es sich aus meiner Sicht immer, sich dieser Anstrengung zu stellen. Mir ist es einfach wichtig, die Dinge in der Tiefe zu ergründen, um damit Klarheit und neue Handlungsoptionen zu gewinnen.

Ganz besonders dankbar bin ich Dir auch für die offene Schilderung Deiner Direktheit, die manchmal als offensiv aufgefasst werden kann. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass die meisten Menschen – und leider vor allem immer noch Frauen – zu falsch verstandener Zurückhaltung erzogen worden sind; und immer noch werden. Ich bin eine davon und habe Jahre gebraucht, um mich mit dem präferierten Verhaltenskodex meiner Ursprungsfamilie zu versöhnen. Erst dann konnte ich meine eigene Art entwickeln, um die Dinge beim Namen zu nennen. 

Außerdem habe ich in vielen, wunderbaren Aus- und Weiterbildungen gelernt, meine Position zu vertreten, ohne den jeweiligen Gesprächspartnerinnen und -partnern ans Bein zu treten. Was mir am meisten dabei hilft, ist das Bedürfnis, dass im Konfliktfall alle Beteiligten mit erhobenem Haupt herauskommen. Dabei behalte ich die Persönlichkeit und individuellen Bedürfnisse jedes und jeder Einzelnen im Blick und suche nach Lösungen, die allen gerecht werden; das ist mir sogar schon als Kind wichtig gewesen.

Du hast geschrieben, dass das mangelnde Interesse an gegenseitigem Kennenlernen und wahrhaftigem Austausch dir Angst macht. Ich frage mich, ob dieses Gefühl vielleicht gespiegelt sein könnte und ob dieses Desinteresse seinerseits der Angst entspringt: Angst davor, dass mir etwas zu nahe gehen könnte zum Beispiel. Vielleicht ist es auch einfach ein Zeichen der Überforderung angesichts der Menge und Vielfalt an Informationen; wenn ich die auch noch hinterfrage, wird die Reflexions- und Entscheidungsgrundlage eben noch komplexer. 

Was ist Deine Herangehensweise, um Informationen zu strukturieren, für Dich einzuordnen und Zusammenhänge herzustellen?

Exkurs

Anm. Annette: An dieser Stelle verlagerte sich unser Gespräch kurzzeitig in die Twitter-Direktnachrichten, da ich nicht wusste, wie ich auf Renates Frage antworten sollte. Wir haben uns daher entschieden, das hier einzuflechten:

Annette Schwindt

Deine Rückfrage hinterlässt mich mit Fragezeichen… Kannst Du mir da mal ein Beispiel dafür sagen, bitte?

Renate Welkenbach

Andere Formulierung: Wie gehst Du vor, um komplexe Zusammenhänge zu verarbeiten?

Annette Schwindt

Das passiert bei mir alles sofort. 🤷🏼‍♀️Ich habe feststellen müssen, dass ich schneller und weiter denke als die meisten, siehe https://www.annetteschwindt.de/2016/06/20/koenigswinter-syndrom/ 

Renate Welkenbach

Danke für den Link zum „Königswinter-Syndrom“ … ich schaue mir das an und formuliere dann eine andere Frage an Dich. 

Annette Schwindt

Oder so… mir hätte auch ein Beispiel geholfen.

Renate Welkenbach

Du hast Recht … am besten beschreibe ich Dir, wie das bei mir selbst abläuft: Wenn ich mich überfordert fühle, weil zu viele, verschiedene Informationen zu schnell auf mich einprasseln, versuche ich erst mal, das Tempo zu drosseln und mir durch Rückfragen mehr Klarheit zu verschaffen, so dass es mir leichter fällt, Zusammenhänge herzustellen. Am liebsten halte ich sogar erst mal komplett an oder ziehe mich raus und sortiere alles, oft mithilfe einer geeigneten Methode wie zum Beispiel das SCORE-Modell von Robert Dilts.

Wenn ich nun meine Antwort in Beziehung zu deinem Königswinter-Beitrag setze, glaube ich sehr wohl, dass bei Dir der Informationsverarbeitungsprozess rasend schnell geht – und gleichzeitig bleibt es ein Prozess, der unterschiedliche Schritte hat; möglicherweise ist es für Dich gerade wegen der hohen Geschwindigkeit schwierig, die einzelnen Prozessschritte bewusst zu differenzieren. Für mich ist es Gold wert gewesen, diesen Prozess bewusst auseinanderzunehmen, damit ich eben besser mit diesem Gefühl der Überforderung umgehen kann.

Habe ich mich so verständlich ausgedrückt? Andernfalls frage bitte gerne weiter, denn das schenkt mir vielleicht neue Ideen, um meine Formulierung zu präzisieren.

Annette Schwindt

Ja, Danke. Ich kann das allerdings nur phänomenologisch zur Kenntnis nehmen. Klingt komisch, ich weiß.

Renate Welkenbach

Ich finde es nicht komisch, sondern interessant. Allerdings glaube ich, dass die ursprüngliche Fragestellung in dieser Form dann eher wenig Sinn macht. Es gibt natürlich mehrere Alternativfragen, die ich dir stellen könnte … und zusammen mit der Überlegung, in welche Richtung ich damit führen möchte, ist mir klar geworden, dass unser Austausch zur aktuell noch vorhandenen Fragestellung für mich ein super passendes Beispiel für das Bemühen um gegenseitige Verständigung darstellt. 

Annette Schwindt

Wäre auch mal interessant, das Schema zu durchbrechen und den Verlauf hier transparent zu machen … Eine Anschlussfrage brauche ich dann trotzdem. 🙂 

Renate Welkenbach

In der Tat! 🙂

Es gibt nicht nur eine Wahrheit

Renate Welkenbach

Um nun passend an unseren Ursprungs-Thread anzuknüpfen: Dabei ist es zuletzt darum gegangen, dass manche Menschen Verbindung und Verständigung blockieren. Genau diese Blockaden sind es, mit denen ich mich nur schwer abfinden kann, weil es dabei um Meinungen anstatt um Fakten geht – viele glauben tatsächlich, dass ihre Perspektive die „Wahrheit“ ist. Dass andere genauso wahr sein können, vermittelt sehr anschaulich diese Grafik – und auch diese Visualisierung hier macht klar, dass Wahrnehmung subjektiv ist.

Das Ausblenden der Realität hat aber auch noch andere Dimensionen – via Instagram habe ich dazu einen passenden Kommentar des SZ-Autors Felix Hütten im Zusammenhang mit Corona-Impfungen gefunden: „Die Erde ist nun mal keine Scheibe. Der Versuch, seine eigene Meinung über längst etablierte Tatsachen zu stellen, lässt letztlich das Fundament eines jeden Diskurses zerbröseln – und damit auch das Fundament einer Gesellschaft.“

Dieses zerbröselnde, gesellschaftliche Fundament ist meines Erachtens das, was sowohl Angst als auch Müdigkeit bzw. Frustration auslöst; meine geschätzte Kollegin Ute Klingelhöfer hat das sehr treffend in diesem Tweet ausgedrückt.

Die Art und Weise, in der Kontrahenten und Kontrahentinnen einander begegnen hat auch der Autor Axel Hacke in seinem Buch „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ aufgegriffen und schreibt mir dabei an vielen Stellen aus der Seele.

Ein weiteres und für mich schlimmes Beispiel ist die Plakatkampagne gegen die Grünen im Vorfeld der letzten Bundestagswahl: Es zeigt, dass der Verlust von Anstand inzwischen nicht mehr auf die Sozialen Medien beschränkt ist. Werner Bittner hat via Linkedin zu Recht die Frage gestellt: „Darf so etwas eigentlich in unseren Städten hängen?“

Ich frage mich, wie wir das – wieder – hinbekommen und fördern können: Dass trotz oder gerade wegen völlig konträrer Sichtweisen ein respektvoller Umgang möglich ist. Damit wir zu geeigneten Lösungen für die Herausforderungen finden, die uns begegnen; sei es Klima, Corona, Digitaler Wandel, Migration, die nächste Wahl oder … oder … oder …

Was denkst du?

Es braucht Vorbilder

Annette Schwindt

Das muss man vermutlich entweder von klein auf erleben und damit verinnerlichen oder sich später ganz bewusst damit auseinandersetzen. Letzteres wird die Masse der Menschen aber nicht tun… Da hängt so viel dran: Die Art, wie Medien berichten und wie damit umgegangen wird, der Umgang miteinander privat und öffentlich. 

Ich kämpfe da selbst auch, denn ich bin mit widersprüchlichen Vorbildern aufgewachsen und habe einiges erst kennengelernt, seit ich mit meinem Mann zusammen gekommen bin. Er ist das totale Gegenteil von mir: bedächtig, geduldig, beherrscht die gewaltfreie Kommunikation. Und ich impulsiv und aufbrausend (daher übrigens mein Nachname, denn das ist tatsächlich ein typischer genetischer Zug in der Familie, der einem Vorfahren irgendwann den Namen eingebracht hat).

Es braucht also wohl die richtigen Vorbilder, die mit einer anderen Art zu kommunizieren anfangen und von denen aus sich diese dann verbreitet. Heißt: Jeder sollte versuchen, seinen Teil dazu beizutragen und in seinem Umfeld wirken. 

Denn die größte Wirkung hat glaube ich die Umsetzung im Alltag und das nicht nur in mündlichen Gesprächen, sondern auch im Schriftlichen bis hin zu Social Media, die ja eigentlich auch als Gesprächswerkzeug gedacht waren (also nicht nur zum Reden, sondern auch zum Zuhören!) und nicht als Einweg-Lautsprecher für den, der am unflätigsten rumschreit. 

Dummerweise haben die Falschen zuerst begriffen, dass man die nötige Aufmerksamkeit am effektivsten über das Schüren von Emotionen erzielt – und haben negative Emotionen dafür gewählt. Statt dieselben Mechanismen für etwas Positives zu nutzen, wird dem Negativen zusätzliche Aufmerksamkeit geschenkt.  Medienkompetenz spielt also wie schon gesagt entscheidend mit rein. 

Was meinst Du, wie man das Verständigungsproblem angehen sollte?

Zuhören ohne zu bewerten

Renate Welkenbach

Danke für deine persönliche Antwort. Dass die Entwicklung deiner eigenen Kommunikationsmuster sogar mit dem Ursprung deines Namens verknüpft ist, bietet noch mal eine ganz andere Qualität. 🙂

Die Prägung durch Erziehung und Bezugspersonen ist vermutlich das, was vielen bei der Kommunikation im Weg steht. Das mache ich auch daran fest, dass gerade die Aufbrausenden ihr Verhalten oft schnell bereuen. Aber auch die augenscheinlich zurückhaltenden Menschen haben Mühe und Not mit ihren tief verinnerlichten Verhaltensweisen.

Bei mir ist es zum Beispiel so gewesen, dass ich früher nur zu gerne Konflikte umgangen habe. Es hat mich viel Arbeit gekostet, mich davon zu lösen und mir als Belohnung eine ganz neue Freiheit geschenkt. Interessanterweise hat mir dabei am meisten das Bedürfnis nach Verbindung und Verständigung geholfen, das die Vermeidungsstrategie mit verursacht hat. 

Irgendwann habe ich erkannt: Wenn ich mich immer nach dem Motto „der/die Klügere gibt nach“ richte, ist das höchstens kurzfristig ein Gewinn – „um des lieben Frieden willen“. Langfristig leidet auch die Beziehung darunter. Im Endeffekt lässt das Ergebnis jedenfalls häufig die integrierte Sichtweise vermissen, auf deren Offenheit für meine Begriffe echte Verständigung aufbaut; und nur damit öffnet sich der Horizont für neue Möglichkeiten und verborgene Lösungen.

Daraus folgt: Nur wenn ich bereit bin, mich dem Konflikt zu stellen, habe ich auch die Chance, echte Verständigung herzustellen. Damit das wirklich gelingt, ist zunächst tiefes, gegenseitiges Verständnis nötig und das wird vor allem durch zuhören gefördert: Einfach nur ZUHÖREN. Ohne direkt den eigenen Senf dazu zu geben. Außerdem: ausreden lassen. Wenn mein Gegenüber dann wirklich alles gesagt hat, um seinen Standpunkt zu erläutern, kann ich durch Fragen überprüfen, ob ich dessen Position, Bewertung, Motivation und das Ziel wirklich verstanden habe. Am schwierigsten finde ich es, dabei die eigenen Gedanken und vor allem den hyperaktiven Bewertungsmechanismus abzuschalten.

Echtes Zuhören fällt vielen verdammt schwer – si claro, mir ebenfalls. Wie ist es bei der impulsiven und aufbrausenden Annette?

Klar verständlich sein

Annette Schwindt

Die hat sich schon deutlich gebessert, was das Rauslassen des Aufbrausens angeht. Immer erst mal tiiief atmen. Meditation sei dank, kann ich das inzwischen ganz gut.

Aber ich habe ja noch ein ganz anderes Problem: Ich verstehe das Meiste wörtlich und kann (siehe oben) auch nur so kommunizieren.Viele Menschen können oder wollen aber nicht genau sagen, was sie meinen, und erwarten umgekehrt, dass das bei anderen auch so ist. Und das ist es, was mir Angst macht: Wie soll Verständigung so überhaupt funktionieren können, wenn beide Seiten zwischen den Zeilen reden/schreiben und interpretieren? Das kann doch nur schiefgehen.

Mit mir geht es jedenfalls erst recht schief: Ich versuche, mich so präzise wie möglich und auf die Sache bezogen auszudrücken. Mein Gegenüber aber interpretiert mir was zwischen die Zeilen, was ich gar nicht gesagt, also auch nicht gemeint habe, und antwortet dann darauf, woraufhin ich wieder nicht verstehe, worauf er*sie sich bezieht. Umgekehrt wird an mich etwas zwischen den Zeilen gerichtet, was ich dann nicht mitkriege, und auf das antworte, was ich wörtlich verstanden habe. Das ist echt schlimm für mich, weil ich damit immer wieder schmerzhaft gegen eine für andere unsichtbare Wand knalle. 

Entweder mein Gegenüber versteht das und kommuniziert von da an direkt mit mir, oder ich muss das Gespräch abbrechen, um mich vor weiteren Crashes zu schützen. Früher wurde ich dann ausgelacht oder veräppelt, heute werden die Leute gern mal aggressiv oder persönlich. Und wenn ich dann noch mit dem Begriff Autismusspektrum komme, ist es ganz vorbei. Dass es sowas wie Neurodiversität gibt, wissen viele nicht und leider verstehen viele nicht gut genug Englisch, als dass ich ihnen dann dieses Video zur Erklärung empfehlen könnte: Why everything you know about autism is wrong – vorausgesetzt natürlich sie wären überhaupt bereit, sich das anzusehen…

Ich bin also wahrscheinlich der letzte Mensch, von dem man Antworten auf das Thema Verständigungsprobleme erwarten kann… Hast Du noch eine Idee? Ich überlasse Dir dann hiermit den Abschluss des Bloggesprächs (ich schätze, wir werden darüber hinaus noch weiter reden 😉) und sage Dir schonmal herzlich Danke fürs Mitmachen!

Mit offener Neugier aufeinander zugehen

Renate Welkenbach

Liebe Annette, DANKE für diesen Austausch, die damit verbundene Inspiration und alles, was ich von dir über deine besondere Art der Wahrnehmung, Autismus, Neurodiversität etc. gelernt habe! 

Das folgende Zitat aus deinen zuletzt geäußerten Gedanken bietet die passende Steilvorlage für das Finale: „Wie soll Verständigung so überhaupt funktionieren können, wenn beide Seiten zwischen den Zeilen reden/schreiben und interpretieren? Das kann doch nur schiefgehen.“ In der Tat. Auch wenn noch viele andere Menschen sich wie ich fortlaufend mit Voraussetzungen, Beiträgen und Förderung von Verbindung und Verständigung beschäftigen, bleibt in der Kommunikation eben immer noch jede Menge Raum für Missverständnisse und Konfliktpotenzial. Deshalb schließe ich mit meinem Appell:

Liebe Mitmenschen, 

ich träume von einer Welt, die von allen mit vereinten Kräften gestaltet wird. Deshalb ist es nötig, dass wir unsere inneren Grenzen und Vorannahmen überwinden, um mit offener Neugier auf andere zuzugehen. Ich wünsche mir, dass wir unsere harte Beurteilung beschränken, fremde Sichtweisen willkommen heißen und uns mit der Gegenposition verbünden. Lasst uns dem Raum schenken, was uns miteinander verbindet, anstatt dem, was uns voneinander trennt. Und im Zweifelsfall besinnen wir uns vielleicht alle einfach auf die jeweils eigenen Bugs und dazu auf den guten Albert E.: In dem Wissen, dass alles relativ ist, tun wir uns einen großen Gefallen damit, wenn wir im zwischenmenschlichen Kontakt Mitgefühl, Wohlwollen und Großzügigkeit den Vorrang geben. Die Welt braucht uns; und miteinander geht mehr.

Über meine Gesprächspartnerin

Renate Welkenbach

Renate Welkenbach sät WIRKSAMEN für Wachstum, Wandel, Weiterentwicklung und ein wohlwollendes, respektvolles Miteinander. Sie sorgt dafür, dass Bauchladen-Besitzer*innen, Diversitäts-Streber*innen und Wandel-Willige die eigene, klare Position finden und durch gehirngerechte Ausdrucksformen in fruchtbaren Austausch mit anderen kommen. So kann die Welt durch Vielfalt, Verständigung, Zusammenarbeit und Innovation profitieren.

renatewelkenbach.de/ueber-mich/

Titelfoto: R. Welkenbach
Avatar von Annette: tutticonfetti

In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.


Diesen Beitrag weitersagen:

Eine Antwort auf „Verständigung lernen – Ein Bloggespräch mit Renate Welkenbach“

Ich bin wieder mal sehr berührt von Euren offengelegten Gedanken. Denn vor allem Zuhören und Verstehen und in der Folge Verständigung brauchen Zeit, die sich viele nicht mehr nehmen. Und so freue ich mich auf das für morgen anberaumte zweite Gespräch mit einer alten Damen von 91 Jahren, die sich Unterstützung bei der Aufzeichnung ihrer Biografie wünscht. Ihre letzten, nun schon acht Jahre alten unvollständigen Notizen haben bei mir etliche Fragen aufgeworfen. Ich will verstehen 😉

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