Eine Ehe, die nicht sein sollte

Geschrieben von Siegfried Schwindt

Mein Vater blieb sehr lange ledig. Nicht, dass es ihm an annehmbaren und auch interessierten jungen Frauen gefehlt hätte, aber er beschloss, wie er sich auszudrücken pflegte, zu warten, bis die Richtige käme. Er war als Mitglied der verschiedenen Chöre der evangelischen Gemeinde Feketitsch und später als deren Leiter und Kantor nicht gerade unbekannt. Aber alle mehr oder minder deutlich vorgetragene Angebote und auch die Sticheleien seiner Freunde zeigten keine Wirkung. Er wollte sich immer noch Zeit lassen.

Eines Sommerabends im Jahre 1936, er war schon 32 Jahre alt, saß er mit Freunden vor seinem Haus. Als die Frotzeleien seiner Begleiter nicht aufhörten und die übliche Frage „Wann heiratest Du endlich?“ kam, deutete er auf das gegenüberliegende Haus, dessen Hoftor sich gerade öffnete. Die Schneiderin, die dort arbeitete, verabschiedete sich von einem jungen Mädchen, das bei ihr zur Anprobe gewesen war. Mein Vater deutete auf die junge Frau und sagte : „Wenn Ihr es unbedingt wissen wollt, ich werde diese Kleine heiraten!“ 

Seine Freunde glaubten, er habe einen Scherz gemacht und lachten amüsiert. Auf ihre Frage, ob die junge Braut denn schon von ihrem Glück etwas wisse, antwortete er ganz ernst : „Nein, noch nicht. Aber, wenn ich die nicht kriege, werde ich überhaupt nie heiraten!“

Nun war seine Auserwählte seit kurzem auch im evangelischen Frauen- und Kirchenchor. Und dessen Leiter und Dirigent war mein Vater. Irgendwann merkten auch die Unbedarftesten, dass sich zwischen den beiden etwas anzubahnen begann. Die junge Frau zierte sich noch, denn sie konnte nicht glauben, dass der um 16 Jahre ältere umschwärmte Mann sich für sie ernsthaft interessierte. Außerdem hatte sie gerade eine aufkeimende stille Zuneigung zu einem anderen, jüngeren Mann entwickelt.

Ihre Mutter erfuhr davon durch Zufall, genauer durch eine Bekannte, nach dem Motto  „Es geht mich ja nichts an, aber ich muss es Dir trotzdem sagen“. Sie griff sofort ein, denn eine Verbindung mit dieser Familie, deren Männer mehr dem Alkohol als ihren Frauen zugetan waren, wollte sie auf jeden Fall verhindern. Letztendlich gelang ihr das auch, aber anders als sie sich das vorgestellt hatte.

Mein Vater ließ inzwischen nicht locker. Die Konkurrenz der Chordamen, von denen einige meinten, ältere Rechte zu haben, schlief auch nicht. Aber sie waren für ihn Luft. Chor war Chor und privat war privat. Er richtete es nach den Chorproben so ein, dass er seine Angebetete ein Stück des Weges nach Hause begleiten konnte und zwar „in allem Anstand“, wie er stets betonte. Die Begleitstrecken wurden immer länger. Aber an der Straßenecke ihrer Gasse war stets Schluss.

Inzwischen gingen die Bemühungen der anderen Damen weiter. So konnte es nicht ausbleiben, dass es auch im Chor bei verschiedenen Anlässen zu Reibereien kam. Eine Geschichte hierzu ist sogar fotografisch festgehalten. Auf einer Gruppenaufnahme des evangelischen Jugendchores zusammen mit der Pfarrfamilie aus dem Jahre 1936 sitzt mein Vater in der ersten Reihe neben der Pfarrfamilie. Sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Er wollte, dass auf dieser Aufnahme seine Auserwählte neben ihm sitzen sollte, sie steht jedoch in der letzten Reihe. Den Platz neben dem umschwärmten Objekt der Begierde hatte sich eine andere ergattert. Um es nicht zu einem Eklat kommen zu lassen, fügten sich zwar die Liebenden, aber mein Vater setzte sein bösestes Gesicht auf.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es dazu eine Parallele gibt. Bei meiner Konfirmation  im Jahre 1955 sollten alle Konfirmanden neben der Kirche zu einem Gruppenfoto Aufstellung nehmen. Alle waren schon dort, nur ich nicht. Mein Onkel wollte unbedingt noch ein Foto von mir vor dem Kirchenportal machen und ich hatte gar keine Lust dazu. Also machte auch ich auf dem Foto das schon bekannte Gesicht. 

Doch zurück zu meinem Vater. Allmählich fand man sich mit der Tatsache ab, dass die beiden ein Liebespaar wurden. Aber im Hintergrund liefen auf diversen Ebenen trotzdem weitere Hintertreibungsversuche.

Eines der größten Hindernisse für die Liebe der beiden war meine Großmutter von väterlicher Seite. Sie war noch eine der letzten Verfechterinnen der strengen Trennung von Evangelischen und Reformierten. Da viele der Aussiedler aus dem Elsass stammten, gab es im Ort eine starke pfälzisch-reformierte Gemeinde. Sie hatten eine eigene Kirche und ihre Gemeindearbeit unterschied sich durch eine klare einfache Nüchternheit von den ihrer Meinung nach auf mehr Prunk bedachten Lutheranern.

Es gab immer wieder Ehen zwischen Mitgliedern der beiden Konfessionen, obwohl sie im allgemeinen von beiden Seiten nicht gern gesehen wurden. Man hatte sich schließlich friedlich darauf geeinigt, dass die Kinder aus diesen gemischten Ehen entweder nach der Religion des Vaters oder in Ausnahmefällen auch nach der Religion der Mutter getauft werden konnten. So entschied jede Familie, welcher Kirche ihre Kinder zugeschrieben werden sollten.  Manche gemischte Familien mit mehreren Kindern teilten die Religionszugehörigkeit ihrer Nachkommen auch paritätisch auf die beiden Kirchen auf.

Meine Großeltern mütterlicherseits hatten sich darauf geeinigt, die Kinder auf die Religion des Vaters, also evangelisch, zu taufen. Doch meiner Großmutter väterlicherseits ging das nicht in den Kopf. Sie wollte keine „Reformierte“ in ihrer Familie. Und deren Mutter hat sie ohnehin nie richtig leiden können. Außerdem war ihr meine Mutter viel zu jung.

Doch, wenn ein Schwindt sich etwas in den Kopf setzt, ist es schwer, wenn nicht gar unmöglich, ihn davon abzubringen.

Auch in der Familie der Braut liefen Bemühungen, das sich abzeichnende junge Glück zu hintertreiben. Mein Großvater mütterlicherseits hatte nichts gegen seinen zukünftigen  Schwiegersohn einzuwenden. Er wusste, er war anständig, fleißig und allgemein sehr gut angesehen. Auch, dass dieser nur acht Jahre jünger war als er selbst, machte ihm keine Probleme. Aber meine Oma dachte natürlich anders. In dieser Hinsicht glich sie der Mutter meines Vaters. Einen Schwiegersohn, der ihr nicht gepasst hatte, hatte sie ja schon abgewendet.

Aber diesmal wollte sie nicht selbst aktiv werden, sondern schickte eine andere Person vor: Der Schwiegersohn ihrer Schwester wurde auserwählt, der Tochter die Liaison auszutreiben. Es wurde so eingerichtet, dass der Abgesandte mit meiner Mutter allein reden konnte. Er versuchte alles, sie davon zu überzeugen, dass mein Vater der falsche Mann für sie sei. Er redete mit Engels- und Teufelszungen, aber er erreichte  genau das Gegenteil: Je mehr die Familien Druck ausübten, desto fester banden sie die beiden Liebenden aneinander.

Dann kam der nächste Querschuss: Eines Morgens lag im Fensterladen ein Briefkuvert ohne Absender. Darin ein Brief mit kaum verstellter Schrift. Man fragte meinen Großvater, ob er denn wisse, mit wem sich seine Tochter so „rumtreibe“. Das gehöre sich doch nicht für so ein junges Ding und trage auch nicht zum Ansehen der Familie bei.

Da der Schreiber der Zeilen anhand der Schrift sehr leicht zu ermitteln war, machte mein Großvater sich gleich auf den Weg, um die Angelegenheit zu klären. Der Absender war niemand anders als sein eigener Schwager, der Mann seiner jüngsten Schwester. Großvater machte ihm klar, dass er für seine Tochter selbst sorgen könne und keine fremde Hilfe dazu brauche. Leute, die solche Zeilen schrieben und noch nicht einmal den Mut hätten, ihren Namen zu offenbaren, sollten gefälligst vor ihrer eigenen Tür kehren und sich um das Wohl und den Anstand ihrer eigenen Töchter kümmern. 

Für meine Mutter war dieser Brief insofern auch noch schmerzlich, weil sie sehr an ihrer Tante hing und mit ihr und ihrem Mann auch mehrmals in Deutschland als Saisonarbeiterin gewesen war. Dass nun gerade von dieser Seite Schwierigkeiten  kamen, bedrückte sie sehr. Sie hatte ihre Tante als ideale Mutter empfunden, zumal sie bei ihrer eigenen Mutter immer nur die zweite Geige hinter ihrem Bruder spielte.

Von den Geschwistern meines Vaters waren bis auf den Lieblingssohn meiner Großmutter keine Probleme zu erwarten. Im Gegenteil, mit den Brüdern kam meine Mutter sehr gut aus.

Schließlich konnten meine Eltern trotz aller Widerstände doch heiraten. Als mein Vater bei den Schwiegereltern in spe um die Hand ihrer Tochter anhielt, kam von Großmutter noch ein letzter Stachel : „Warum fragst Du denn, Du hast sie doch eh schon!“ Aber Großvaters Blick brachte sie zum Schweigen. Und sie fand sich auch mit den Tatsachen ab.

Im Jahre 1939 heirateten meine Eltern in einer einfachen Hochzeitszeremonie.

Es war eine kurze Ehe. 1941 musste Vater zum Militärdienst. Er fiel bei einem Partisanenangriff Mitte September 1944. In der allgemeinen Verwirrung wurde er zusammen mit einigen anderen Gefallenen im Hof der Waffenfabrik Valjevo mit einem kurzen militärischen Zeremoniell beerdigt. Danach flüchtete der Rest der deutschen Truppen unverzüglich Richtung Norden. 

Wir haben von Vaters Tod erst 1948 erfahren. In Kikinda erreichte uns über das rote Kreuz ein Brief von Vaters Schwester. In Dobritschevo erhielten wir außerdem einen Brief eines seiner Kameraden aus einem englischen Gefangenenlager und Mitte der Fünfziger besuchte uns ein Kamerad und schilderte uns nochmals das damalige Geschehen.

Ich habe meine Mutter später oft gefragt, warum sie nie wieder geheiratet hat. Es gab genug Männer, die sie hätte bekommen können. Aber sie antwortete immer nur:

„So einen Mann wie ihn hat es nie wieder gegeben.“

Aus der Reihe „Geschichten meines Vaters“

In den letzten Jahren seines Lebens hat mein Vater Siegfried Schwindt Geschichten von der Familie und aus seiner Kindheit in der Vojvodina auf sehr berührende Weise festgehalten. Damit hat er auch versucht, die Jahre in Internierungslagern und Zwangsarbeit zu verarbeiten, die er als donauschwäbisches Kind erleben musste. Er wollte, dass sie erst nach seinem Tod veröffentlicht werden. Hiermit erfülle ich ihm diesen Wunsch. Die Geschichten erscheinen in Absprache mit der Familie anonymisiert hier im Blog.

Bild: Pixabay


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