Über das Landleben – Ein Bloggespräch mit Friederike Kroitzsch

Eines der wenigen Blogs, die ich hier auf meiner persönlichen Website in der Blogroll habe, ist landlebenblog.org von Friederike Kroitzsch. Das liegt daran, dass ihre Beiträge echt gut geschrieben und bebildert sind und mir die Gegend, über die sie schreibt, nicht unbekannt ist. Auch sonst haben wir einige Gemeinsamkeiten, weswegen ich sie zu diesem Bloggespräch eingeladen habe:

Annette Schwindt

Hallo Friederike, wir folgen uns schon ganz schön lange via Social Media und Du hast damals auch bei meinen Interviewreihen #webseidank und #lebendigital mitgemacht. Ich glaube, ich habe auch noch ein Followerinterview aus Zeiten von schwindt-pr von Dir im Archiv. Aber gegenseitig schriftlich ausgetauscht haben wir uns noch nie.

 Wird also echt mal Zeit, zumal es ja viele Parallelen zwischen uns gibt: 

  • Wir sind beide Bloggerinnen
  • Wir arbeiten beide mit Sprache
  • Wir kommen beide aus dem Journalismus

Aber während Du aus der Großstadt auf Land gewechselt bist, bin ich vom Land in die Stadt gezogen (wobei ich Bonn als nicht sehr urban empfinde, dafür muss man rüber nach Köln). 

Wie kam es dazu, dass Du ausgerechnet den Odenwald gegen Berlin eingetauscht hast?

Von der Hauptstadt in die Provinz

Friederike

Hallo, liebe Annette, – klasse, dass wir uns mal wieder “sprechen”! Und tatsächlich sind wir geografisch gesehen offenbar ganz gegenläufige Wege gegangen. Du nach Bonn (was ich jetzt auch nicht wirklich als Großstadt bezeichnen würde, hüstel), und ich von Berlin in den Odenwald. 

Meine Reise in den Odenwald hat aber mehrere Umwege genommen:

Zuerst bin ich der Liebe und des Jobs wegen von Berlin weg, nach Heidelberg. Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren, so richtig schön klischee-mäßig, das war ein ziemlicher Fehlgriff, wie sich im Rückblick herausstellt, aber zumindest brachte es mich als überzeugte Berlinerin mal schon nach Süddeutschland. 

Und dann wollte das Schicksal irgendwann, dass ich unzufrieden im meiner journalistischen Arbeit wurde und irgendwas suchte, wo ich wieder so richtig an die Basis komme, zu den Menschen, zu den Geschichten. Und zeitgleich suchte mein Sender jemanden als Odenwald-Korrespondent. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wer oder was oder wo dieser Odenwald sein sollte. War aber neugierig. So, und das hab ich nun davon. Seit dem Jahr 2000 bin ich jetzt hier, plötzlich begeisterte Landpomeranze und so glücklich als Provinz-Korrespondentin, wie‘s schlimmer nicht sein kann. 

Deine Heimat Speyer kenne ich übrigens ganz gut, da habe ich auch mal gearbeitet, beim Evangelischen Presseverband in der Nähe vom Bahnhof. Und auch die Pfalz kenne und mag ich. Eigentlich doch eine sehr schöne Gegend, und Speyer als Kleinstadt hat ja was! Wieso geht man da weg?? 

Am Rhein geblieben

Annette Schwindt

Dreimal darfst Du raten. Natürlich auch der Liebe wegen, nur dass es bei mir kein Fehlgriff war, sondern das Beste, was mir hätte passieren können. Ich liebe Speyer und die Pfalz sehr, das ist eine der schönsten Regionen, die ich kenne. Wird nicht umsonst die Toskana von Deutschland genannt. Aber hier ist es auch wunderschön und ich hab meinen geliebten Rhein fast direkt vor der Haustür.

Eine echte Großstadt habe ich mit Köln ganz in der Nähe, aber die lockt mich überhaupt nicht. Wenn es um Großstädte geht, bin ich eher Typ Paris oder Helsinki. Da ist es nicht so hektisch. In Berlin war ich mal vor langer Zeit und hab mich gar nicht wohlgefühlt. Bonn ist jetzt die perfekte Mischung: Nicht zu groß, nicht so hektisch, aber trotzdem Weltklasse, was Kultur und Anbindung an den Rest der Welt angeht.

In Speyer war ich ja auch als Zeitungsjournalistin tätig. Heute würde ich das gesundheitlich nicht mehr schaffen. Aber das Ausgraben von Geschichten „ganz nah am Leser“ hat mir auch Spaß gemacht. Vor allem, wenn es um Orte ging, an die man normalerweise nicht einfach so kam. Und ich war Stadtführerin, wo ich gelernt habe, dass Russland im Odenwald liegt. 😉

Wie war das denn am Anfang für Dich im Odenwald? Ich stelle mir vor, dass allein der Dialekt schon eine Herausforderung gewesen sein dürfte? Was war Dir besonders fremd?

Blick bei Sonnenaufgang auf ein nebelverhangenes Dorf, aus dem der Kirchturm herausschaut
Dorf im Odenwald

Sprachbarriere, Traditionen und Ureinwohner

Friederike

Am Anfang habe ich mir immer deutsche Untertitel gewünscht. Also: Hochdeutsche. Nix habe ich verstanden, rein gar nix. Und viele haben mich für furchtbar arrogant gehalten, weil ich eben Hochdeutsch rede. Ich bin dann irgendwann dahintergekommen und habe mein altes Berlinerisch aus dem Hinterkopf hervorgekramt, dann ging es besser. Und immer öfter auf Augenhöhe. 

Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass ich hier im Odenwald als Radio-Frau so eine Art Semi-Prominenz sein würde, das war am Anfang ganz schmeichelhaft, hatte und hat aber auch sehr viele Nachteile. 

Und die vielen ungeschriebenen Gesetze im Dorf, die Traditionen, ich kannte das alles nicht und bin von einem Fettnapf in den nächsten gesprungen, volle Pulle und mit Anlauf. Das war manchmal lustig und manchmal auch nicht. Ich hatte echt nicht geglaubt, dass das Leben auf einem Dorf so ganz anders sein würde als in einer Stadt, ich war da wirklich sehr naiv und unbedarft.

Zum Glück hat mich nach ein paar ziemlich einsamen Jahren ein sehr angesehener “Ureinwohner” demonstrativ an die Hand genommen und “eingeführt”, ab da ging es bergauf, und inzwischen habe ich viele tolle Menschen hier kennengelernt, denen es inzwischen auch wurst ist, ob ich die Frau vom Radio oder sonstwas bin, die sehen jetzt die Friederike, dafür bin ich extrem dankbar. Aber die ersten Jahre waren privat wirklich herausfordernd. 

Bist Du selber denn aus Speyer direkt? Das ist ja schon mal ein bisschen Stadt – ich stelle mir vor, der Wechsel dann nach Bonn war nicht so krass, oder? 

Kulturschock Karneval

Annette Schwindt

Ich bin in Speyer geboren, war dort auf dem Gymnasium, habe während des Studiums als Stadtführerin und freie Journalistin gejobbt und während meines Volontariats zwei Jahre dort gewohnt, bevor es nach Bonn ging. Das mit der Semiprominenz kenne ich daher auch. 

Vorher habe ich auf dem Dorf auf der anderen Rheinseite gelebt. Kennst Du Alt- und Neulußheim? In Altlußheim habe ich meine Kindheit und die ersten Teenagerjahre verbracht. Das hatte damals, glaube ich, etwa 6000 Einwohner. Ich hab in den Feldern und Rheinauen gespielt, bin mit der Blechkanne zum Bauern Milch holen gegangen und habe viel Zeit im Tante-Emma-Laden meines Onkels verbracht. Abends saß man bei Nachbarn oder Freunden im Hof und redete über Gott und die Welt.

In Speyer (damals 50.000 Einwohner) war das nicht ganz so eng, aber auch noch nah. Dort hab ich im Wittelsbacher Hof, einem früheren Hotel, über einer Cocktailbar mit Club gewohnt. Um uns herum viele Künstler und Gastronomie. Da war immer was los und jeder kannte jeden. Das war super interessant, aber auch sehr anstrengend. 

Seit ich in Bonn (300.000+ Einwohner) bin, ist es deutlich ruhiger. Zumal ich nicht auf der Bonner Seite wohne, sondern rechtsrheinisch in Beuel, was zwar ein Bonner Stadtteil ist, sich aber von seiner Geschichte her weiter als etwas Eigenes sieht und noch kleinstädtischer anfühlt. Außerdem sind wir politisch ein sehr grünes Viertel mit vielen Studenten und jungen Familien.

Mein Kulturschock hier war Karneval (das ist entweder Religion oder man flüchtet für eine Woche) und ebenfalls die Sprache. Ich kann wirklich gut Dialekte verstehen, aber bei Kölsch (oder hier Bönnsch) steh ich öfter mal im Wald. Mein Mann kommt von der Mosel, der versteht das hier richtig gut. Aus mir kriegt man den Kurpälzer auch nach über 20 Jahren im Rheinland nicht raus. Immerhin versteh ich das Kölsche Grundgesetz, das ist schon mal die halbe Miete. 😉

Welche Eigenheiten der Odenwälder waren Dir besonders fremd und hast Du etwas davon mit der Zeit assimiliert?

Mangelndes Selbstbewusstsein

Friederike

Karneval, da sagst Du was! Heißt hier Fasenacht, und wird zumindest in einigen Regionen gefeiert, dass es nur so kracht. Das war mir nun sowas von fremd, als preußische Protestantin! In Berlin hatten wir am Rosenmontag eine Stunde schulfrei, in der wir uns dann eine rote Pappnase aufsetzen mussten, und das wars dann aber schon wieder mit Fasching oder Karneval. Die närrische Zeit hier im Odenwald war und bleibt mir fremd, aber ich beobachte das mit einem gewissen Neid. 

Was mir immer wieder auffiel und heute noch manchmal unterkommt, ist dieses –  wie soll ich es nennen? Dieses “Minderwertigkeitsgefühl” der Odenwälder? Vielleicht ist das in vielen ländlichen Regionen so, oder zumindest in Gegenden, wo über Jahrhunderte bittere Not geherrscht hat, ich habe keine Ahnung. Es ist dieses Gefühl von “Naja, ist hier halt ländlich, lange nicht so toll wie in der Großstadt, und wir sind ja auch nur Odenwälder, und die Friederike sehnt sich bestimmt ganz dolle nach Berlin und geht bestimmt auch bald zurück, weil sie es hier nicht aushält.” Niemand sagte jemals zu mir “Herzlich willkommen in der schönsten Region der Welt – klasse, dass Du jetzt auch gemerkt hast, wie super es sich hier so leben lässt!!” 

Ich finde das immer wieder sehr schade, wenn ich diese Tendenzen bemerke und wünsche den Leuten dann immer mehr Selbstbewußtsein. 

Und ich wünsche mir bei einigen, dass sie selber sehen, wie schön es hier sein kann – manchmal sprechen mich Blogleser an und sagen “Ha, ich sehe ja erst durch die Fotos im Blog, wie schön es hier ist!”. Die sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht, aber vielleicht geht das allen Menschen so, die lange in ein und derselben Region leben. 

Wobei: In der Pfalz ist das bestimmt nicht so, oder? Ich könnte mir vorstellen, dass die Menschen in den ländlichen Regionen der Pfalz durchaus ein eigenes Selbstbewußtsein haben. Denen ging es vermutlich auch immer besser, allein schon durch den Weinbau. Oder kennst Du das auch, dieses “Naja, ich komme halt nur vom Lande!”? Das würde doch ein Städter nie sagen! 

Herbstlicher Waldrand in Rotbraun mit Nebelschwaden und gelbgrüner Wiese
Auf dem Land

Patriotismus in Pfalz und Rheinland

Annette Schwindt

Dem Pfälzer mangelt es zumindest nicht an Patriotismus. „Gott erhalt‘s, die Palz!“ 😉 Was mussten wir uns auch mit den Wittelsbachern und den Franzosen rumschlagen, hömma! Aber dann kam der dicke Helmut und hat Speyer samt pälzischem Saumage zum Nabel der Welt gemacht. Praktischerweise während meiner Gymnasialzeit, so dass es dauernd schulfrei gab, weil der Papst oder irgendein Staatsoberhaupt mal wieder zu Gast war und wir winken durften. Mein Gymnasium steht nämlich direkt um die Ecke vom Kaiserdom.

Da fällt mir eine Anekdote ein: Als mein damaliger Freund Besuch von einem Berliner Gleichaltrigen hatte und der nur Spott für „die Provinz“ hatte. Zu unserem geliebten Altstadtfest merkte er nur an „Aha, hier trifft sich die Dorfjugend“. Oh, was fand ich den herablassend! Vermutlich mochte ich Berlin nachher auch deswegen nicht, denn da haben wir den Rückbesuch bei ihm gemacht…

Und hier im Rheinland ist Patriotismus schon in der Muttermilch und selbst für uns Zugereiste ein bisschen ansteckend. Wusstest Du z.B., dass die Weiberfastnacht hier in Beuel von den Wäscherinnen erfunden wurde? Selbst wenn man das – wie ich – nicht feiert, ist es schon cool zu wissen, dass es hier angefangen hat. Und neben der Tatsache, dass Bonn mal „Bonndeshauptstadt“ war, haben wir hier allerlei spannende Sachen: den Petersberg mit dem berühmten Hotel, die Drachenburg und den Drachenfels samt Bergbahn, jede Menge richtig gute Museen, Konzerte (ich konnte Robbie Williams vom Balkon aus über den Rhein aus dem Hofgarten singen hören) und andere Veranstaltungen und natürlich Haribo. 

Außer mit der Fähre, die früher bei uns vor der Haustür abgelegt hat (wurde mangels neuem Kapitän leider eingestellt), bin ich hier noch nicht mit dem Schiff gefahren, aber es gibt von der Bonner Seite aus mehrere Rheintouren. Unsere Uni ist wohl sehr gut und die Demokultur sehr aktiv. Schließlich fand hier im Hofgarten in den 80ern ein Höhepunkt der Friedensbewegung statt! Wer Großstadt will, kann schnell rüber nach Köln, und wer Natur liebt hat das Siebengebirge auf der einen und die Eifel auf der anderen Seite ganz nah. Aber schon an der Beueler Rheinpromenade fühlt man sich wie im Urlaub. Du siehst, ich gerate ins Schwärmen. 

Ach ja, mein Auto hab ich beim Umzug nach Bonn verkauft. Brauche ich hier echt nicht. Wenn ich mich richtig erinnere, ist der Odenwald aber ziemlich ab vom Schuss, oder hat sich das inzwischen geändert? Kommt man da ohne Auto überhaupt klar?

Ohne Auto verloren

Friederike

Ohne Auto??? Bist Du wahnsinnig? Nein, im Ernst, es gibt ein paar Ortschaften, die haben sowas wie eine vernünftige Busverbindung, da fährt dann alle Stunde ein Bus, aber das ist die Ausnahme. Und einige Gemeinden liegen an der S-Bahn, die übrigens vom Odenwald direkt nach Kaiserslautern und auch (mit einem Umstieg) nach Speyer fährt. Da sind die Immobilienpreise in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen, weil das schon ein echter Knaller ist: ÖPNV!! Wow! 

In dem Dorf, in dem ich wohne, kann man davon nicht sprechen, und ohne Auto bist Du aufgeschmissen. Der Supermarkt ist im übernächsten Dorf, zu Fuß wäre ich da eine Stunde hin, eine zurück unterwegs. Bis ich zu einem Drogeriemarkt komme, muß ich 15 Kilometer pro Weg fahren. Fürs Hühnerfutter 8 Km hin, 8 zurück. Bei uns im Dorf gibts ein Gasthaus, sonst nichts mehr. Kein Bäcker, kein Metzger, gar nix. 

Und das Fahrrad als Alternative? Uff. Hier gehts dauernd die Berge rauf und runter, ohne e-Bike ist das nur was für Profis. 

Also habe ich ein Auto. Eigentlich zwei, das private und das dienstliche. Und mein Mann hat auch ein Auto. Zwei Leute, drei Autos vor der Tür. Hier nichts Ungewöhnliches. Aber für unsere Ökobilanz natürlich eine Katastrophe. Ich versuche, das an anderen Stellen wieder wettzumachen, kaufe nur gebrauchte Klamotten, und bin seit 25 Jahren nicht mehr geflogen. 

Aber mich ärgert das schon: Die Städter, die behaupten, dass wir alle hier sehr wohl aufs Auto verzichten könnten und wir in Wirklichkeit nur zu faul sind – und die es zudem noch für komplett selbstverständlich halten, dass in den Großstädten der ÖPNV super ausgebaut ist, für viel Geld. Was dann hier, in der “Provinz” fehlt. Interessiert aber keinen. Von wegen “Gleiche Lebensverhältnisse”! Ich kriege deswegen auch mitunter einen dicken Hals, wenn mal wieder über kostenlosen ÖPNV in den Städten nachgedacht wird. Prima Sache an sich. Aber wie wird das dann finanziert? Indem sie uns hier auf dem Land noch die allerletzten Busverbindungen streichen. Mich ärgert, dass in solchen Fragen oft nicht an uns auf dem Land gedacht wird. Kannst Du das nachvollziehen, oder bin ich jetzt hysterisch?

Bushaltestellen-Schild im Nirgendwo mit schwerem Wolkenhimmel zwischen einsamer Landstaße und Fahrradweg
ÖPNV im Odenwald

Medizinische Versorgung

Annette Schwindt

Nee, ich hab ja auch mal auf dem Dorf gelebt, da wurden abends und am Wochenende auch die Bürgersteige samt Verkehrsverbindungen weggeklappt. Wer da ausgehen wollte, war ohne Auto auch abgehängt. Und um in die nächste größere Stadt wie Mannheim/Ludwigshafen, Heidelberg oder Karlsruhe zu kommen, musste man ewig fahren. Ich weiß nicht, ob sich da bis heute viel geändert hat…?

Ein weiteres Problem ist die medizinische Versorgung. Die alten Hausärzte gehen in Rente und junge Ärzte kommen deutlich weniger nach, wenn überhaupt. Aufs Land kommen höchstens Ärzte aus dem Ausland und denen trauen die alten Dörfler nicht, weil sie nicht ihren Dialekt oder ohnehin schlecht deutsch sprechen. Und Hausbesuche gibt es schon lange nicht mehr. Das nächste Krankenhaus ist ohne Auto auch nicht zu erreichen. 

Aber anstatt dass die Leute froh sind, dass überhaupt jemand da ist, schimpfen sie über die Ausländer. So schade. Dabei wäre die kleinere Gemeinschaft doch prädestiniert für echte Inklusion. Aber sie sind natürlich keine Rassisten, neeeee! Das ist doch im Odenwald bestimmt auch ein Thema, oder? 

Willkommenskultur im Odenwald

Friederike

Erinnerst Du Dich an die ersten größeren Flüchtlings”wellen” 2014/2015? Ich könnte immer wieder heulen, wenn ich daran denke. Weil nämlich der Odenwald, die Odenwälder so großartig waren. Ehrlich! Und je kleiner die Dörfer, desto besser funktioniert die Integration, das sagt auch die Verwaltung. Damals lief es super. Und auch, als die ukrainischen Geflüchteten kamen, lief es großartig, der weit überwiegende Teil dieser Flüchtlinge wurde privat bei irgendwelchen Menschen untergebracht, ganz unfassbar. 

Die Integration läuft oft auch über die Fußballvereine, das war hier schon immer so. Vielleicht knüpft der Odenwald an die Erfahrungen nach Kriegsende an, als all die Vertriebenen plötzlich hier auf der Matte standen, und so eine Stadt wie Mosbach innerhalb von zwei Monaten (!)  ihre Einwohnerzahl verdoppelte. Das hat irgendwie auch funktioniert, und vielleicht ist das ein Grund, warum es hier bis heute funktioniert. Ohne die damals Vertriebenen und ohne die in den 80ern gekommenen Rußlanddeutschen gäbe es hier heute keinen so erfolgreichen Mittelstand, sagt man hier immer. 

Inzwischen haben sich die Zeiten aber ein bisschen geändert, und die Willkommenskultur hat gelitten, die ohnehin gebeutelten Kommunen fühlen sich mit der Unterbringung der Geflüchteten völlig überfordert und von Land und Bund im Stich gelassen. “Unser Herz ist weit, aber unsere Mittel sind endlich”, sagt der Landrat inzwischen, weil er auch nicht mehr weiß, wo er noch Unterkünfte bereitstellen soll. Trotzdem hat es bis heute in dem riesigen Landkreis noch keine einzige Demo oder irgendsowas gegeben, wo gegen Ausländer oder Geflüchtete gehetzt worden wäre. Vielleicht ist der Odenwald dann eben doch eine Region, wo Hass und Hetze noch nicht auf der Tagesordnung stehen, vielleicht sind die Leute hier zufriedener als anderswo, ich habe keine Ahnung. Gleichzeitig fährt die AfD hier immer höhere Wahlergebnisse ein, ich bringe das alles nicht ganz zusammen. 

Wenn Rassismus, Hass und Hetze immer mehr zunehmen, müsstest Du in einem städtischen Umfeld das doch auch mitbekommen? 

Vielfalt leben

Annette Schwindt

Ich wohne wie gesagt in einem sehr grün geprägten Umfeld. Unsere derzeitige Oberbürgermeisterin ist grün, auch bei der letzten Bundestagswahl hatten wir am meisten grüne Stimmen. Sowohl bei der Bundestagswahl als auch bei der Europawahl dieses Jahr war die AfD gerade mal auf Platz 6, im Umland lag sie mit leichten Gewinnen auf Platz 4, die CDU deutlich vorn und die Grünen haben knapp über 10 Prozent verloren und landete knapp hinter der SPD.

Persönlich beschäftige ich mich mit verschiedenen Facetten von Vielfalt, da kriege ich direkt in meinem Umfeld wenig anderes mit. Nur was mir Bekannte und Freunde erzählen, die beispielsweise aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind. Aus gesundheitlichen Gründen bin ich wenig draußen unterwegs. Dafür bin ich täglich auf digitalem Weg mit Menschen auf der ganzen Welt im Gespräch. Wir haben seit ein paar Tagen Glasfaseranschluss, damit wird mein Tor zur Welt noch stabiler. War aber eine größere Odyssee und das ca. ein Kilometer Luftlinie von der Telekomzentrale. Das glaubt Dir kein Mensch… 

Ein Freund aus Oslo sprach mich neulich auf einen möglichen Besuch an und meinte in einem Nebensatz, er könne dann ja auch mal zum Arbeiten in die Stadt gehen, da gäbe es ja sicher überall freies WLAN. Da musste ich doch sehr lachen, auch wenn’s peinlich war…

Wie ist es denn bei Euch mit der Internetanbindung?

Von Glasfaser und Funklöchern

Friederike

Du wirst staunen. Glasfaseranschluss im Haus. Schon relativ lange. Der Landkreis hier war der erste in Deutschland, der das auf eigene Faust mit einem privaten Investor durchgezogen hat, weil er nicht auf staatliche Fördergelder warten wollte, die vermutlich bis heute noch nicht bewilligt wären. Für uns alles ziemlich unkompliziert und bisher ziemlich super, ich suche noch nach einem Haken, finde ihn aber bislang nicht. 

Ok, – wenn wir über mobiles Netz reden, sieht die Sache schon anders aus, je nach Anbieter, fällst Du hier von einem Odenwälder Funkloch ins andere. Da wollen die großen Anbieter halt nix investieren, lohnt sich einfach nicht auf dem dünn besiedelten Land. Das ist schon echt ärgerlich. 

Und öffentliches Wlan haben viele auch klitzekleine Kommunen mit der ersten Flüchtlings”welle” 2016 eingerichtet, zumindest zum Beispiel großräumig in den Ortskernen oder rund ums Rathaus. Und neulich war ich in einer uralten abgerockten Gastwirtschaft in einem 300-Seelen-Nest – aber natürlich Gäste-Wlan im Haus, ich habe gestaunt. 

Du siehst also: bei manchen sind wir ganz gut dabei, bei manchen Themen gehts uns hier auch mitunter besser als den Städtern – aber von der “Gleichheit der Lebensverhältnisse” sind wir (mein Eindruck) trotzdem irgendwie meilenweit entfernt. Oder was ist Dein Eindruck?

Dramatische dunkle Wolken vor orangefarbenem Himmel mit Baumsilhouetten im Hintergrund
Sonnenuntergang im Odenwald

Schwierige Wohnsituationin der Stadt

Annette Schwindt

Ja, das stimmt auf jeden Fall. Nur eben nicht unbedingt so stereotyp Stadt-Land, sondern es kommt auch noch auf die Region an. 

Woran wir hier auch stark den Unterschied merken, sind die Essensgewohnheiten. Während es in der Stadt ganz alltäglich ist, mal Sushi oder indisch zu essen oder gar nach Hause bestellen zu können, ist das für die Leute im ländlicheren Raum drumherum immer noch völlig exotisch. Dasselbe gilt für vegetarisches Essen, von vegan ganz zu schweigen. Allerdings kommt es da auch noch auf das Alter der Leute an. 

Womit ich mich nicht so gut auskenne, sind die Wohnverhältnisse. Ich weiß, dass es hier in der Stadt quasi unmöglich ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Selbst die höherpreisigen Wohnungen sind schon vor dem Bau wegreserviert. Als wir vor ein paar Jahren nur mal laut überlegt haben wegzuziehen, hatten wir sofort mehrere Interessenten für unsere Wohnung. Am neuen Ort hingegen, war trotz Makler nichts zu finden. 

Wobei bei uns ja erschwerend hinzu kommt, dass es barrierefrei sein muss. Das ist noch so ein Thema. Wäre mein Mann in seinem Heimatdorf geblieben, hätte er unmotorisiert nicht mal das Grundstück verlassen können. 

Wie ist das bei Euch? Kann man im Odenwald leicht eine neue Wohnung finden und ist es außerhalb der Unistädte überhaupt barrierefrei?

Zugezogene renovieren, Alteingesessene bauen neu

Friederike

Uff, Barrierefreiheit, das ist ja so ein Thema, das ich nur selten auf dem Schirm habe, da haste mich jetzt schön erwischt. Typisch: ich bin nicht betroffen, denke also nicht groß drüber nach. Schlimm! Aber wenn ich doch ein bisschen nachdenke, fällt mir ein, dass einige Gemeinden hier zusehen, dass die Bushaltestellen (für welche Busse auch immer) barrierefrei sind. Viele Gaststätten und Geschäfte sind es noch lange nicht. Wenn Du als Rollifahrer mit der Bahn nach Stuttgart willst, scheitert es mitunter an der Bahnsteighöhe hier, und daran, dass die wenigen Aufzüge an Haltepunkten oft kaputt sind. Die Dörfer hier sind sicherlich kein guter Wohnort mit Menschen mit Einschränkungen. Und auch die vielen alten Wohnhäuser bestehen zuallererst aus Treppen. 

Stichwort Wohnhäuser: Die meisten Leute mieten hier ja nicht, die kaufen. Oder besitzen eh seit Generationen Immobilien. Die Preise sind in den vergangenen Jahren deutlich in die Höhe gegangen, man kann das an den Preisen für Bauland sehen: Als wir hier was suchten, vor 15 Jahren, kostete der Quadratmeter 25 Euro, inzwischen sind wir fast bei 150 Euro. Vergleichbar sind auch die Preise für Häuser gestiegen, aber vermutlich sind wir hier immernoch auf der Insel der Seligen, selbst, wenn man für ein großes Haus im Grünen inzwischen sicherlich 500.000 Euro rechnen muß. 

Was ich gar nicht verstehe: Viele alte große Häuser stehen leer, die Besitzer wollen nicht verkaufen – oder sie finden keinen Käufer, weil die jungen Familien sich lieber ein neues (Fertig-)Haus in ein enges Neubaugebiet bauen, und das Haus von Oma oder Vater nicht haben wollen. Mir ist das völlig rätselhaft. Wenn Du hier richtig schön sanierte alte Bauernhäuser siehst, dann kannst Du fast wetten, dass da Zugereiste wohnen. Verrückt: als wären die Zugezogenen aus der Stadt die, die die Traditionen des Dorfes aufrechterhalten. Als wären sie diejenigen, die die Schönheit des Dorfes sehen. Und die Alteingesessenen wollen alles “neu” und alles “modern”, als wollten sie sich endlich von der Vergangenheit der Region und ihrer bitterarmen Vorfahren trennen. 

Ich finde das alles irgendwie ambivalent, aber auch super spannend: sich mit diesen Themen zu befassen, Verständnis zu entwickeln und auch die Ambivalenzen auszuhalten. Das ist für mich auch das Tolle am Leben hier auf dem Dorf: Ich habe das Gefühl, ich lerne jeden Tag etwas dazu, es ist eine ständige Horizonterweiterung – und das ist ja nicht verkehrt. Ob das Dir auch so gegangen bist, als Du vom Land in die Stadt gezogen bist? Ich würde vermuten: nein. Oder? 

Miteinander verbessern

Annette Schwindt

Doch, warum denn nicht? Menschen gibt es ja überall. Vielleicht sind meine Themen andere, das weiß ich nicht… 

Aber nochmal zum Thema Barrierefreiheit: Du sagst, Du seist nicht betroffen? Da muss ich Dir leider widersprechen: 88 Prozent der Behinderungen werden im Laufe des Lebens durch Krankheit oder Unfall erworben. Und je älter Du wirst, umso wahrscheinlicher ist, dass Du eine erwirbst. Außerdem bezieht sich Barrierefreiheit nicht nur auf Rollstuhlfahrer. Eigentlich sollte das der Standard sein und nicht umgekehrt… Aber das ist ein eigenes Thema.

Wir sind hier eine Eigentümergemeinschaft von 14 Partien, die lange nebeneinander her gelebt hat. Dann habe ich (gerade rechtzeitig) vor Corona angefangen, mit einer simplen Whatsapp-Gruppe die Bewohner zu vernetzen. Allerdings unter der Auflage, dass da nur gepostet wird, was alle angeht. Seitdem hat sich das Miteinander deutlich verbessert. Ich glaube, sobald sich Menschen besser kennenlernen, wird es immer besser, egal wo. 

Mein persönliches Sozialleben findet ohnehin größtenteils auf digitalem Wege statt. Da erlebe ich jede Menge horizonterweiternde Dinge und lerne spannende Menschen kennen. Wie damals, als ich noch analog bei der Zeitung gearbeitet habe. Nur eben von zuhause aus und weltweit. Da ist es dann tatsächlich egal, ob ich in der Stadt oder auf dem Land wohne. 

Gibt es denn noch etwas, das Du gern zum Thema loswerden möchtest? Sonst würde ich Dir jetzt das Schlusswort überlassen. Vielen lieben Dank, dass Du Dir die Zeit für diesen Austausch genommen hast!

Friederike

Nur noch schnell zu meiner Ehrenrettung: Unser Haus haben wir schon vor zwanzig Jahren barrierefrei gebaut, zumindest die große untere Etage. So, dass man eines Tages nur dort leben könnte, und das eben komplett barrierefrei. Und von wegen Barrieren: Ich fand das jetzt ein sehr angenehmes und bereicherndes Gespräch! Gibt ja immernoch und immer wieder etliche Barrieren und Mauern zwischen Großstadt- und Landbevölkerung. Das hilft uns ja nicht weiter. Aber solche Gespräche schon. Danke dafür, liebe Annette!

Über meine Gesprächspartnerin

Friederike mit kurzen braunen Haaren steht lächelnd vor einem abstrakten blauen Gemälde

Friederike Kroitzsch, Jahrgang 1967, Journalistin und selbsternannte Landfrau. Geboren und aufgewachsen in Berlin, seit zwanzig Jahren in einem Dorf im Odenwald mit 360 Einwohnern. Liebt die Natur und den weiten Himmel. Vermisst die Großstadt nur ganz selten.

landlebenblog.org

Fotos: Friederike Kroitzsch
Avatar von Annette: tutticonfetti

In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.


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