„Der Rollstuhl ist nicht die Behinderung „

Das folgende Interview mit mir ist im Anhang der eBook-Ausgabe von „Du + Ich = Liebe“ von Heike Wanner zu finden, leider aber nicht in der Printausgabe. Die Autorin hat es zusätzlich  zwar auf Ihrer Website veröffentlicht, allerdings nicht unter Permalink und auch ohne die im Text angesprochenen Verlinkungen. Ich habe sie daher um Erlaubnis gebeten, es hier noch einmal so zu veröffentlichen, dass es einzeln aufrufbar und so zu finden ist, dass man die angesprochenen Verweise auch anklicken kann.

Heike: Hallo, liebe Annette, und vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, mit mir ein wenig über dies und das zu plaudern. Magst du dich zuerst kurz vorstellen? Oder vielleicht auch etwas länger? Denn du machst so unglaublich viel …

Annette: Ja, irgendwie sagen das viele, dabei finde ich das gar nicht. Ich würde gern noch so viel mehr machen und bin immer ganz frustriert, dass ich das nicht schaffe.

Ich fasse es mal so zusammen: Ich mach was mit Schreiben, das heißt, ich bin Journalistin, Redakteurin, Bloggerin und Autorin sowie Fachlektorin. Außerdem helfe ich anderen mit ihrer digitalen Kommunikation, bis sie gelernt haben, diese allein weiterzuführen. Dies tue ich sowohl ehrenamtlich – als Mentorin oder einfach Begleiterin – als auch als bezahlte Beraterin für Geschäftskunden.

Heike: Thomas ist seit vielen Jahren der Mann an deiner Seite. Wie habt ihr euch kennengelernt? Wann habt ihr geheiratet?

Annette: Thomas habe ich bei der Recherche zu so einem Buch kennengelernt, wie du es jetzt hier geschrieben hast. Ich wollte damals die Geschichte eines Freundes aufschreiben, der einen Unfall hatte, aber er bat mich, seinen Fall zu verändern. Das Nächste, was mir als Unfallfolge einfiel, war Querschnittlähmung.

Also landete ich im Chatroom einer Selbsthilfegruppe, und da war Thomas und gab mir ein Interview. Das Buch habe ich bis heute nicht geschrieben, die eigentliche Geschichte aber schon.

Mit der Zusammenarbeit mit dir schließt sich also ein Kreis bei mir.

Heike: Du sagst selbst über deinen Mann, dass er einer ist, der nicht lange über Inklusion redet, sondern einfach macht. Kannst du uns ein paar Beispiele nennen?

Annette: Er hatte seinen Unfall als Beifahrer mit 18, also mitten in den Vorbereitungen zum Abi, das er dann eben mit einem Jahr Verspätung machte und ebenso den Führerschein. Er studierte Jura, machte sein Referendariat und bewarb sich in ganz Deutschland. Währenddessen engagierte er sich politisch sowie in der Jugendarbeit und war als Gemeinderat und im Rollstuhlsport tätig.

Als er hier in Bonn seine Stelle bekam, zog er von zu Hause aus und machte seinen Weg bei der Arbeit. Dort ist er inzwischen zum zweiten Mal zum Personalratsvorsitzenden gewählt worden und hat nebenbei noch eine Fortbildung zum Mediator gemacht, die er jetzt auch in der Praxis anwendet.

Das alles managt er komplett ohne Hilfe, auch wenn er als Tetraplegiker (Querschnitt im Halswirbelbereich) sehr viel länger für alles braucht. Seit es mir gesundheitlich schlechter geht, hat er sich außerdem das Kochen und Backen beigebracht und verwöhnt jetzt nicht nur mich, sondern auch unsere Gäste, wenn wir Besuch bekommen. Das alles findet er überhaupt nicht besonders, sondern hat Spaß daran. Ich finde, davon könnte sich manch nichtbehinderter Mann mehr als eine Scheibe abschneiden!

Heike: Vieles in Eurem Leben läuft genauso alltäglich ab wie bei Paaren ohne Behinderung, einige Dinge sind aber auch anders. Welche Unterschiede zu einem Leben ohne Rollstuhlfahrer bemerkt ein Besucher bei euch?

Annette: Viele Besucher wollen die Schuhe ausziehen, wenn sie zur Tür reinkommen. Das macht bei uns aber keinen Sinn, da Thomas ja auch nicht die Reifen ausziehen kann, wenn er von draußen reinkommt. 😉 Auch wollen sie Thomas ständig alles abnehmen und vergessen dabei, dass er ja sonst auch alles selbst macht, wenn sie nicht da sind. Er sagt schon Bescheid, wenn man was helfen kann.

Unsere Wohnung sieht auf den ersten Blick wie jede andere aus, aber sie ist stufenlos mit einem Aufzug erreichbar. Auch drinnen gibt es keine Türschwelle oder sonstige Stufen oder Ebenen. Auch keine Teppiche oder Badvorleger, an denen man mit dem Rollstuhl hängen bleiben könnte. Die Wohnung ist komplett gefliest bis auf Parkett im Schlafzimmer.

Was viele nicht von sich aus bedenken, ist, dass Thomas mehr Platz zum Durchkommen braucht als ein Fußgänger und dass er nicht über Dinge drübersteigen kann. Wer das nicht berücksichtigt, dem kann er schon mal unbeabsichtigt über die Zehen fahren. Wer genauer hinsieht, entdeckt hier und da an Ecken oder Möbelfronten Kratzer oder dunkle Streifen in Fußbretthöhe, nämlich dort, wo Thomas beim zu engen Vorbeifahren öfter mal langschrappt.

An den Rollos sind die Zugschnüre verlängert, damit man auch aus Sitzhöhe rankommt. Im Esszimmer steht an dem Ende des Tisches, das frei anfahrbar ist, kein Stuhl, weil das Thomas’ Platz ist und der seine Sitzgelegenheit ja schon dabei hat. 😉 Ach ja, und irgendwo steht immer ein hüfthoher Greifer herum, mit dem Thomas an höhergelegene Schrankfächer oder unter Möbel gekullerte Dinge rankommen kann. Den und unseren Ersatzrolli finden Kinder besonders klasse.

Käme jemand außerdem in unser Badezimmer (Besucher nutzen normalerweise das Gästebad), dann würden sie eine selbst gebaute Duschkonstruktion mit Sitz sehen, und dass die Toilette höher angebracht ist als gewöhnlich. Mir mit über 1,80 Meter kommt das auch zugute. Ich bin die niedrigen Toiletten gar nicht mehr gewöhnt. Außerdem ist das Waschbecken unterfahrbar sowie der Wasserhahn ausziehbar.

Wozu man schon sehr genau hinschauen und uns kennen müsste: Alles, was Thomas täglich braucht, ist für ihn erreichbar eingeräumt. Alles, was weiter oben steht, braucht er entweder selten, oder es ist Zeug von mir.

Im Schlafzimmerschrank hat er außerdem Griffe an den Kleiderstangen, um sie zu sich nach unten ziehen zu können. Zum Hosen an- oder ausziehen muss Thomas sich hinlegen, da er das nur schwer im Sitzen erledigen und nicht aufstehen kann. Überhaupt sind alle Dinge, die mit dem Ein- und Aussteigen aus dem Rolli oder der Körperpflege verbunden sind, für ihn zeit- und kraftaufwendig. Als Tetraplegiker (also Querschnitt im Halswirbelbereich) hat er im Gegensatz zu dem niedrig verletzten Ben keine Kontrolle über seine Torso- und Bauchmuskeln und weniger Kraft in den Armen und Händen. Deshalb kann er Dinge nicht mit beiden Armen gleichzeitig heben. Das geht nur mit einer Hand und mit dem anderen Arm hakt er sich am Rolligriff fest, um nicht nach vorn zu klappen. Außerdem hat er teils heftige Spasmen, die man besser nicht abbekommen sollte ;-). Er kann das ja nicht kontrollieren. Deswegen besser neben statt vor ihm stehen bleiben für den Fall, dass es losgeht.

Wer mit Thomas Auto fahren will, der wird die Handsteuerung und den Greifknopf am Lenkrad bemerken sowie die zahlreichen Spuren, die vom Ein- und Ausladen des Rollis herrühren. Sollte derjenige dann mit ihm draußen unterwegs sein, wird er lernen, Kopfsteinpflaster oder andere unebene Untergründe zu meiden, auf abgeflachte Bordsteinkanten und Rampen zu achten oder auf die Schräge und Breite von Bordsteinen generell. Ich tue das inzwischen auch, wenn Thomas nicht dabei ist. Die Macht der Gewohnheit. 😉

Heike: Hast du ein paar typische Bemerkungen parat, die in Eurem Alltag ständig fallen und die Ihr schon nicht mehr hören könnt?

Annette: Thomas ist jemand, der es anderen wirklich sehr leicht macht, mit ihm über seine Einschränkungen zu reden. Er ist offen für Fragen und würde nie jemandem deswegen blöd kommen. Es kann sein, dass er einen mal ein bisschen veräppelt, aber auch das nie böse. So antwortete er auf die Frage: „Du kannst fliegen?“, im Gespräch über eine Geschäftsreise per Flugzeug mal todernst: „Ja, klar! Da klappe ich da links und rechts über den Rädern die Tragflächen aus und dann HUUIIIIIIIII!“ Ansonsten eben das übliche Rollifahrer-Bullshit-Bingo von „ich hab mir auch mal den Knöchel verstaucht“ bis hin zu den unbedachten Kitschfloskeln von „Leiden“, „an den Rollstuhl gefesselt“ und „tragischem Schicksal“. Dass man eine Querschnittlähmung haben und einfach sein Leben leben kann, ist für die meisten Leute unvorstellbar.

Heike: Du hast einen Leitfaden für die Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen verfasst, den ich großartig finde. Wichtigste Erkenntnis: „Was einen Menschen ausmacht, sind nicht seine körperlichen Fähigkeiten, sondern seine Persönlichkeit, sein Denken, Fühlen und Handeln … Einschränkungen hat jeder, auch nichtbehinderte Menschen. Bei Menschen mit Behinderung ist nur eine besondere Einschränkung sofort sichtbar.“ Diese Ratschläge gelten auch ganz allgemein für den Umgang mit Menschen mit Behinderung. Kannst du den LeserInnen darüber hinaus noch ein paar alltagstaugliche Tipps geben?

Annette: Ich hab das Infoblatt 2004 beim Internationalen Paralympischen Kommitee auf Englisch entdeckt und mit deren Erlaubnis ins Deutsche übertragen sowie seitdem ständig erweitert und angepasst. Zuletzt hat Cartoonist Phil Hubbe noch passende Zeichnungen beigesteuert.

Allgemein: Behandle alle Menschen so, wie du selbst auch behandelt werden willst. Rede ganz normal mit dem anderen, hilf nicht ungefragt, hab Geduld, wenn jemand für etwas länger braucht. Nur weil du vielleicht etwas schneller tun könntest, heißt das nicht, dass es so auch für den anderen besser ist. Also lieber abwarten, bis du gefragt wirst und dann etwaige Anleitungen auch beherzigen, selbst wenn es dir umständlich vorkommt. Der Fragende hat gute Gründe dafür, etwas so zu erbitten, wie er es tut, und es würde einfach zu lange dauern, dir das alles zu erklären.

Heike: Beim Schreiben von Du+ich=Liebe war ich lange im Internet unterwegs und bin der von der Fülle an Informationen zum Thema Querschnittlähmung fast erschlagen worden. Zum Glück habe ich dich gefunden! Du warst die Fachfrau an meiner Seite, der ich meine Fragen gezielt stellen konnte.

Wenn man als LeserIn durch dieses Buch neugierig geworden ist und noch mehr erfahren will – welche Möglichkeiten gibt es?

Annette: Puh … am besten ist immer noch der persönliche Kontakt. Dafür gibt es Veranstaltungen von Rollstuhlsport-Vereinen oder Interessengruppen wie der FGQ (Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten).

Heike: Hast du noch etwas, das du an dieser Stelle loswerden möchtest?

Annette: Wir sind ALLE Menschen, egal welche körperlichen oder geistigen Fähigkeiten jemand hat, woher er kommt oder welche Eigenschaften er sonst hat.

Die Gründe, warum und auf welche Weise jemand welche Art von Rollstuhl benutzt, sind dabei so vielfältig, dass ich es hier nicht mal eben schnell zusammenfassen kann. Es gibt Menschen, die den Rollstuhl nur zeitweise benötigen, Menschen, die sich ohne ihn gar nicht fortbewegen können, Menschen, die dabei ihren Oberkörper (vor allem die Bauchmuskeln), Arme und/oder Hände benutzen können, andere nicht. Wieder andere können sich dabei gar nicht oder nur teilweise oder vielleicht nur eine Körperseite bewegen und brauchen daher beim Fahren auch einen Fuß auf dem Boden oder eine Schubverstärkung oder einen elektrischen Rollstuhl. Manche haben Spasmen, andere sind einfach körperlich zu schwach zum Gehen oder haben ein Gleichgewichtsproblem. Also bitte nicht über einen Kamm scheren.

Man hört oft: „Was hat er denn?“ – „Er sitzt im Rollstuhl.“ Aber der Rollstuhl ist nicht die Behinderung. Er ist im Gegenteil ein Hilfsmittel, das für Bewegungsfreiheit sorgt – solange keine baulichen Barrieren oder Barrieren in den Köpfen von Menschen im Weg sind.

Heike: Ein sehr schöner, treffend formulierter Schlusssatz. – Vielen Dank, liebe Annette, für das Interview! (07.09.2017)


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8 Antworten auf „„Der Rollstuhl ist nicht die Behinderung „“

Sollte derjenige dann mit ihm draußen unterwegs sein, wird er lernen, Kopfsteinpflaster oder andere unebene Untergründe zu meiden, auf abgeflachte Bordsteinkanten und Rampen zu achten oder auf die Schräge und Breite von Bordsteinen generell. Ich tue das inzwischen auch, wenn Thomas nicht dabei ist. Die Macht der Gewohnheit. ?

Darin hab ich mich gleich wiedererkannt 😉 Seit ich ein paarmal mit unserem gemeinsamen Bekannten Alex unterwegs war, habe ich mir diesen Blick auf Verkehrseinrichtungen auch generell angewöhnt.

Mir fiel aber noch etwas auf: Besteht denn nicht die Gefahr, daß Thomas beim Autofahren Spasmen bekommt? Ich stelle mir das doch recht gefährlich vor. Aber vielleicht liegt das ja auch an meinem unzureichenden Vorstellungsvermögen. 😉

Doch, aber das meist erst nach langer Fahrt in engen Kurven. D.h. man kann die Wahrscheinlichkeit durch rechtzeitige Pausen und vorsichtiges in die Kurve gehen deutlich minimieren.

Hallo Annette,

deinen Zeilen zu urteilen, “ verhortest“ Du Dir“, Autist zu sein. Hast Du dazu eine ärztliche Besstätigung, oder ist es eine Art Selbstverordung?!

So wie es da steht: Ich verorte mich im autistischen Spektrum. Das ist hier aber nicht das Thema, sondern das Intervew zu Heikes Buch. 🙂

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