In alle Ewigkeit

von Annette Schwindt

„Übrigens: Danke!“
Liebevoll lächelte er mich mit der Hälfte seines Gesichts an, die er noch bewegen konnte.
„Wofür?“, fragte ich.
„Weißt schon“, sagte er, deutete mit dem Finger auf seinen Hals und schaute auf meinen.

Mir wurde heiß und kalt… Worauf er da schaute, war das Medaillon, das ich an einer Kette um den Hals trug. Das Medaillon, in dem sein Bild war. Aber davon konnte er nichts wissen. Ich hatte es ihm nie gesagt und ich war die ganze Zeit 1000 Kilometer fort von ihm gewesen.

An der Stelle an seinem Hals, auf die er zeigte, war eine rote Narbe, die quer zwischen seinen Schlüsselbeinen verlief. Dort, wo sie ihm den Luftröhrenschnitt gesetzt hatten, um ihn am Leben zu halten.

„Ich wollte eigentlich dort bleiben, weißt Du?“, sagte er und versuchte, sich mir gegenüber auf die hüfthohe Mauer zu hieven, die rund um den Garten verlief und auf der ich bereits saß. Helfen lassen wollte er sich nicht. Und als er es endlich geschafft hatte, strahlte er mich schief aber stolz an.

„Ich wusste, wenn ich zurückkomme, dann bedeutet das Schmerzen und Angst und all das, was dort gar nicht mehr da war. Dort war alles… einfach nur… gut.“

Seufzend zuckte er die Achseln als würde ihn diese Beschreibung nicht wirklich zufriedenstellen.

„Es war alles so …ruhig und so schön und friedlich. Nichts Negatives mehr… Alles, was einem hier Sorgen oder Kummer macht, ist dort einfach nicht mehr wichtig.“ Er schüttelte den Kopf, „Es ist nicht weg, das nicht. Aber es… es spielt einfach keine Rolle mehr.“

Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Das Einzige, was bleibt… das Einzige, was nie aufhört… ist Liebe.“

Liebe!

„Jeder Mensch, der Dir wichtig ist und dem Du wichtig bist, ist mit Dir in Liebe verbunden“, sagte er. „Egal ob das Deine Familie ist oder Freunde oder ein Partner. Ganz egal, das ist alles Liebe. Nur eben in verschiedenen Formen. Und diese Liebe ist wie ein Band zwischen Dir und diesen Menschen. Mal ist es breit und stark, manchmal nur ganz zart. Aber es ist immer da. Egal wo Du bist. Egal ob hier oder dort…“

Der Wind strich sanft durch die Bäume und über meine Haut.

„Ich hatte irgendwie auch keine Angst, weißt Du? Ich war nicht allein. Alle die, die schon vor mir gegangen sind, waren bei mir. Meine Großmutter, sogar mein Hund, den ich als Kind hatte, waren da und freuten sich mich zu sehen!“

Er lachte und ich konnte beinahe den Hund vor mir sehen, wie er freudig an seinem Herrchen hochsprang.

„Deswegen wollte ich nicht zurück…“

Der Abend senkte sich über den Garten, in dem wir saßen. Die Sommerluft war warm und weich und ich wünschte mir, ich könnte einfach zu ihm hinüber gehen und ihn in die Arme nehmen. Doch auf eine seltsame Weise waren wir uns bereits viel näher als das.

„Was hat Dich dann zurückgeholt?“, fragte ich ihn vorsichtig.

Er schaute versonnen auf das halb verdorrte Gras unter seinem Platz auf der Mauer und grinste sein halbes Grinsen. Dann schaute er mir lange in die Augen ohne zu sprechen.

Schließlich sagte er: „Meine Zeit war noch nicht gekommen… noch lange nicht, haben sie gesagt.“

„Er will noch nicht gehen.“ Das hatte seine Cousine gesagt, als sie aus seinem Zimmer in der Unfallklinik gekommen war. Ganz froh und guter Dinge war sie zurück in den Warteraum gekommen, wo die Familie sich weinend versammelt hatte, um einer nach dem anderen von ihm Abschied zu nehmen, bevor die Apparate, an denen sein Leben hing, abgeschaltet werden sollten. Und jetzt kam dieses gehörlose Mädchen aus seinem Zimmer und sagte, man dürfe das nicht tun, er werde zurück kommen, er brauche nur noch etwas mehr Zeit.

Als sie in das Zimmer gegangen war, in dem er lag, war sie noch voller Angst gewesen. „Verabschiede Dich von ihm“, hatten sie ihr bedeutet. Aber wie? Ratlos blieb sie allein neben der Tür stehen, die von außen wieder geschlossen wurde, und starrte auf ihren schwerverletzten Cousin, von dem sie gesagt hatten, er würde nie mehr aufwachen.

Plötzlich fühlte sie jemanden hinter sich, der sie sanft zum Bett schob. Erschrocken drehte sie sich um, doch da war niemand. Und trotzdem spürte sie weiter diese Kraft, die sie Richtung Bett drängte. Sie gab nach, setzte sich an sein Bett, nahm seine Hand und spürte, wie er sie um Hilfe bat.

„Ihr dürft ihn nicht abschalten“, gab sie jetzt seine Bitte weiter. „Er kommt zurück!“

Wenige Wochen später öffnete er tatsächlich die Augen und lächelte sein erstes schiefes Lächeln. An Sprechen oder Aufstehen war zunächst nicht zu denken und es wurde ein langer Kampf bevor er sich wieder verständlich machen oder ohne Hilfe fortbewegen konnte.

Und nun saß er endlich vor mir und sagte MIR Danke?

Ich hatte nicht bemerkt, dass ich beim Zuhören wieder das Medaillon zwischen Daumen, Zeige- und Ringfinger genommen hatte. Genau so, wie ich es all die Monate jedesmal getan hatte, wenn ich eine Hand frei gehabt hatte. Ich hatte es einfach festgehalten und mir vorgestellt, ich wäre bei ihm und würde ihn festhalten, mit ihm sprechen. Würde versuchen, ihm Kraft zu geben, wieder aufzuwachen und das alles durchzustehen…

Genau wie damals war das Medaillon jetzt ganz warm geworden. Es glühte fast in meiner Hand…

Aber das konnte er doch nicht wissen!

„Liebe hört nie auf“, sagte er jetzt noch einmal. „Und jemand, den Du liebst, und der Dich liebt, wird immer bei Dir sein. Ganz egal was passiert… Bis in alle Ewigkeit.“

Avec tout mon amour pour R.
qui a changé ma vie!
Bonn, 6./7.Juni 2009

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11 Antworten auf „In alle Ewigkeit“

Sehr, sehr schön geschrieben…Die Worte haben mich berührt…auf eine sanfte, schmerzliche Weise….Danke für die Gedanken die ich jetzt habe…

Es ist ein großes Privileg, die Dinge so sehen zu können, wie du sie siehst. Diese einzigartigen unzerstörbaren und tiefen Verbindungen sind um so viel stärker als jede Trauer. Das wird in dem Augenblick glasklar, in dem die Trauer losgelassen wird. Danke für diese Geschichte!

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