Dialog vs. Marketing – Ein Bloggespräch mit Oliver Heim

Gleich über mehrere Themenideen habe ich mit meinem heutigen Gesprächspartner nachgedacht. Schließlich stellte er fest, dass es ja bei meiner ganzen Reihe direkt oder indirekt um Kommunikation geht und um das echte Interesse an verschiedenen Themen. Das ist genau das, was wir beide als die Essenz (nicht nur) digitaler Kommunikation ansehen. Leider sehen das viele aber nicht so, sondern denken nur in Marketingkategorien. Warum ist das so?

Annette Schwindt

Hallo Oliver, wie toll, dass Du mich auf diese Frage angesprochen hast. Das ist seit langer Zeit genau mein Thema. Was ist aus der guten alten Kommunikation geworden? War es nicht das, was im Digitalen eine Renaissance erleben sollte? Bevor der Mainstream dort ankam, habe ich es auch noch eine Zeit lang so erlebt. Es ging um Gespräche auf Augenhöhe zwischen Menschen und darum, Wissen zu teilen.

Aber je mehr Unternehmen dazu kamen, umso mehr verkommerzialisierte sich alles und die Unarten, die sich offline schon breit gemacht hatten, verbreiteten sich nun auch online. Plötzlich ging es nicht mehr um Dialog, sondern um Online-Marketing, nicht mehr um Inhalte, sondern um Content-Marketing. Alles musste vermarktbar werden. Und je lauter jemand auf diesem Markt schreit, umso mehr rennen ihm nach. Bis der nächste Marketinghype durchs virtuelle Dorf getrieben wird.

Junge Menschen, die erst seit den letzten paar Jahren online unterwegs sind, kennen es nur so und glauben, das müsse so sein. So war das aber nicht gedacht! Was denkst Du, warum so viele den Marktschreiern folgen?

Hallo Annette, zunächst möchte ich mich ganz herzlich für die Einladung zu diesem Gespräch bedanken. Und damit sind wir ja auch schon mitten im Thema. Ein echter Dialog, geprägt von Respekt, Neugier und Offenheit, findet gefühlt immer weniger statt. Deshalb freue ich mich über Gelegenheiten wie diese.

Kommen wir zu den Marktschreiern und warum dieses Gebrüll überhaupt noch stattfindet. Ich denke, da müssen wir etwas unterscheiden. Einerseits ist die Frage zu klären, ob Unternehmen, die lautstark einen Monolog in den Markt tragen, wirklich Erfolg damit haben und was in diesem Zusammenhang überhaupt als Erfolg zu verstehen ist. Auf der anderen Seite steht die Frage, ob die Empfänger:innen das Geschrei überhaupt positiv wahrnehmen, selbst wenn sie darauf reagieren, bspw. durch einen Kauf.

Um diese Frage zu beleuchten, möchte ich zunächst auf weitere Fragen in Deiner Einleitung eingehen. Du hast die gute alte Kommunikation erwähnt und gefragt, ob diese nicht durch das Digitale eine Renaissance hätte erleben sollen. Das wäre natürlich schön gewesen, aber wir müssen nach über 20 Jahren wohl leider feststellen, dass dies in großen Teilen nicht funktioniert hat. Dabei war durch das Internet endlich die Chance da, mit den Menschen in den Märkten direkt ins Gespräch zu kommen. Was zuvor über Radio, TV, Print und Plakat zwangsweise eine Einbahnstraße war, hätte durch Foren, Kommentare und später die Social Networks zu einem lebhaften Kreisverkehr werden können. Ein solcher Kreisel benötigt aber Achtsamkeit gegenüber den anderen und das war vermutlich den meisten Unternehmen zu anstrengend und so haben sie es sich weiter in der Einbahnstraße gemütlich gemacht.

Die Chance für einen Paradigmenwechsel in der Kommunikation hat bereits 1999 das Cluetrain Manifesto aufgezeigt. Die vier Autoren hatten schon damals erkannt, welches Potenzial das Internet für die Kommunikation generiert und Unternehmen darauf aufmerksam gemacht. Meiner Meinung nach sollten alle die in den Bereichen Marketing, Presse, Unternehmenskommunikation arbeiten, die 95 Thesen dieses Manifests kennen. Ich möchte an dieser Stelle nur These 1 zitieren: “Märkte sind Gespräche”. In diesen drei Worten steckt eigentlich alles drin. Nur leider führen Unternehmen keine Gespräche, sondern überwiegend Monologe.

Und damit komme ich zurück zum vermeintlichen Erfolg der Marktschreier. Ihre Monologe führen vielleicht temporär zu Erfolgen, weil es Impulskäufe oder andere Zufallstreffer gibt. Je lauter ich schreie, desto mehr kompensiere ich die Streuverluste. Aber echte Beziehungen entstehen niemals durch Monologe. Und ich bin der festen Überzeugung, dass auf lange Sicht nur die Unternehmen überleben, die emotional verbundene Kunden haben.

Kennst Du das Cluetrain Manifesto und hast Du Informationen darüber, was Unternehmen als Erfolg in Bezug auf ihre eigene Kommunikation betrachten?

Annette Schwindt

Ja klar kenne ich das Cluetrain Manifesto. Ist aber schon ewig her, dass ich es gelesen habe. Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als wir das in der Branche auch ganz selbstverständlich vorausgesetzt haben.

Dann kamen Facebook-Unternehmensseiten und die Rennerei nach dem ROI (return on investment) und den KPI (key performance indicators) nahm immer mehr Überhand. Denn es wurde nur in Zahlen und Umsatz gedacht. Es ging nur ums Verkaufen, der Sinn dieser Präsenzen wurde nicht begriffen.

Durch Beispiele wie die Blamage der Deutschen Bahn mit ihrer Chefticket-Seite kam noch die Angst vor Shitstorms dazu. Manche begriffen zwar, dass es um Ansprechbarkeit und das hilfreiche Beantworten von Fragen geht. Manche sogar, dass man damit noch viel mehr machen kann. Aber viele Entscheider blieben weiterhin bei möglichst schnell zu erreichenden Zahlen als Richtwerten: Wieviele Fans in welcher Zeit im Vergleich zum Werbebudget, statt wieviel und welche Art von Interaktion im Verhältnis zu einer organisch wachsenden Followerzahl, eine sinnvolle Einbindung in die Gesamtkommunikation mit dem Ziel einer langfristigen Vertrauensbildung. Natürlich kann man zusätzlich auch Marketingkampagnen fahren, aber das darf nicht Hauptsache werden.

Allein der Begriff Online-Marketing bringt mich bis heute auf die Palme. Das Bloggen ist zum Content-Marketing verkommen, statt Austausch geht es in Blogs heute ums Influencer-Marketing und alles muss genau und in Echtzeit messbar sein. Dafür gibt es dann wieder möglichst effiziente Analyse- und Vergleichstools. Verzeihung; Marketingtools!

Was glaubst Du, warum Unternehmen so an diesem Marketingbegriff hängen?

Nun, ich denke, dass hier die üblichen Kräfte wirken. Insbesondere der Verteidigungsreflex “Das haben wir schon immer so gemacht” greift an dieser Stelle vermutlich. Online-Marketing, Content-Marketing, Social Media Management … es soll hip klingen, vor allem in der Stellenausschreibung. Aber am Ende geht es nur um die alten KPI die Du beschrieben hast.

Gerade bei sehr großen Unternehmen liegt dies meiner Einschätzung nach an einem Grundsatzproblem. In den Vorstandsetagen sind Menschen beschäftigt, deren Vergütung und Ziele sehr kurzfristig definiert sind. Da geht alles nur um den nächsten Quartalsbericht. Als der aktuelle CEO von SAP, Christian Klein, vor einigen Monaten angekündigt hat aus dieser Spirale der Kurzfristigkeit zugunsten langfristiger Ziele ausbrechen zu wollen, sank sofort der Aktienkurs. Dabei müssten gerade die Anleger an einer langfristigen Strategie Interesse haben.

In diesem Fokus auf den nächsten Quartalsbericht gibt es wenig Platz für Neues, Zeit für Gespräche etc. Da greift man dann eben auf die eingeübten Mechanismen zurück. Ok, aus Plakat ist vielleicht Social Media, und aus TV YouTube geworden, aber der Sinn und die Möglichkeiten dieser Plattformen werden selten richtig verstanden.

Du hast auch die Buzzwords angesprochen. Deren Verwendung bestätigt ebenfalls die vorhandene Oberflächlichkeit. Wer einen Tischkicker aufstellt, Obst anbietet und Scrum einführt, glaubt das wäre New Work. Wer eine Social Media Managerin einstellt, glaubt automatisch es findet Dialog statt. Aber wir kennen ja alle den Spruch mit dem Zitronenfalter …

Was glaubst Du, wie kann es Unternehmen gelingen, wirklich mit ihren Märkten ins Gespräch zu kommen. Kennst Du positive Beispiele?

Annette Schwindt

Ich arbeite eigentlich fast nie mit Unternehmen und wenn, dann mit kleinen. Ich kann hier also nur als Kunde sprechen. Und da erlebe ich eigentlich nur Situationen, die mich mit großen Fragezeichen zurücklassen.

Ein Unternehmen bietet z.B. seinen Kundenservice ausschließlich via Facebook an, nicht mal telefonisch. Da bekommt man zwar schnell Antwort, dann wird aber doch nach der Telefonnummer gefragt. Die Nummer, von der man dann angerufen wird, kann man nicht zurückrufen, weil da ein Bot vorgeschaltet ist, dessen Fragen man nicht beantworten kann. Schließlich schickt der Facebook-Ansprechpartner, der natürlich nur einen Vornamen hat und ungefragt duzt, einen Servicemitarbeiter vorbei, der mich dann anmeckert, dass man den Fehler schon per Telefon hätte finden können und dass er nicht bei ihnen läge: Resultat: Problem nicht gelöst, aber 60 Euro Anfahrtskosten und Mitarbeiterzeit. Auf Beschwerde wieder via Facebook gibt es nur Schulterzucken, von Kulanz keine Spur.

Ein anderes Unternehmen schaltet im Fernsehen familienorientierte Werbespots während es online eine Promikampagne fährt, die den TV-Spots in der Aussage total widerspricht. Zufällig kannte ich einen der beteiligten Agenturleute und sprach ihn darauf an. Er antwortete, dass ich ja nicht in der Altersklasse sei, an die sich die Onlinekampagne richte. Ich wies ihn darauf hin, dass doch aber jemandem im Unternehmen auffallen müsste, dass sich die Kampagnen widersprechen und dass ja auch keiner bestimmen kann, ob sich jemand online und im TV informieren möchte. Darauf kam nur Schulterzucken, denn das seien ja zwei verschieden Aufträge an verschiedene Werbeagenturen. Die würden nicht miteinander abgestimmt. Von Gesamtkonzept keine Spur. Es geht nur ums kurzfristige Abverkaufen bestimmter Produkte.

Da fällt mir echt nichts mehr ein. Das kann doch langfristig nicht gut gehen. Ich möchte jedenfalls nicht als Klickvieh behandelt werden. Wie geht es Dir damit, wie sich Unternehmen in Social Media verhalten? Und kennst Du positive Beispiele?

Eine Situation wie Du sie geschildert hast, erlebe ich leider sehr häufig. Ein Klassiker sind für mich die “Hilfe-Hotlines” auf Twitter. Wenn ich Probleme mit einem Produkt oder einem`Anbieter habe, nutze ich häufig Twitter um dies direkt anzusprechen. Dies führt sehr häufig dazu, dass innerhalb einer Stunde eine Rückmeldung im Sinne von “Das tut uns leid, wir kümmern uns, müssen aber auf Direktnachrichten wechseln weil wir die Kundendaten brauchen.” Danach bin ich dann zwar in einem direkten Dialog, aber geholfen wird mir in 90% der Fälle nicht, da das Social-Media-Team die Fragestellung innerhalb des Unternehmens in die Standardprozesse einkippt und dann alles wie immer läuft.

Aus Sicht des Unternehmens ist dies natürlich schlau. Das Problem wird durch die Verlagerung auf die Direktnachrichten aus der Öffentlichkeit entfernt bzw. diese liest als letztes, dass die Firma sich um das Problem kümmert. Dass keine Lösung zustande kommt, bleibt dann im Verborgenen. Wenn ich eines gelernt habe in den letzten Jahren, dann, dass für Unternehmen die eigenen Prozesse wichtiger sind als das Kundenerlebnis.

Das von Dir geschilderte Schulterzucken in der Agentur bestätigt nicht nur die Konzeptlosigkeit, sondern vor allem, dass die Entscheider in solchen Prozessen einfach die Menschen in ihren Märkten nicht kennen. Bei den Marketing-Kampagnen wundere ich mich als Konsument ja auch immer wieder, wie bestimmte Dinge passieren können.

Ich erinnere mich unter anderem an die Kampagne von Audi für den RS4 Avant, das ist noch nicht so lange her. Es ging um ein Motiv, auf dem vor dem genannten Fahrzeug ein kleines, gestyltes  Mädchen mit einer Banane in der Hand stand. Dazu der Text “Lets your heart beat faster – in every aspect.” Ich meine, innerhalb der beauftragten Agentur ging dieses Motiv durch viele Hände. Sicher auch von Müttern und Vätern. Ebenso bei Audi, denn sicher gibt es dort strenge Freigabeprozesse. Selbst wenn es am Ende nur 20 Menschen waren, da muss doch irgendjemanden auffallen, dass dieses, vorsichtig ausgedrückt, geschmacklose Motiv unmöglich verwendet werden kann.

Bei positiven Beispielen denke ich unter anderem an KLM, die niederländische Fluglinie, die sehr emotionale Kampagnen fahren und mit ihren Social Media Aktivitäten im Kontext “Service” (Buchungen, Umbuchungen etc.) schon 2015 pro Woche einen sechsstelligen Umsatz erzielten.

Nun haben wir einige Kritik geübt. Die Frage ist ja, wie könnten es die Unternehmen besser machen. Wie können sie echte Gespräche führen. Kannst Du Beispiele nennen von denen sich andere etwas konkret abschauen könnten oder selbst Tipps zur Umsetzung geben?

Annette Schwindt

Oh ja, die berühmten Servicehotlines! Das kann man manchmal nur noch als Realsatire betrachten…

Ich frage mich langsam, ob große Unternehmen überhaupt in der Lage sind, das Social Web so zu nutzen, wie es ursprünglich gedacht war. Solange sie an althergebrachten Prozessen festhalten und das Internet nur als weitere Werbe- bzw. Katalogfläche behandeln, sicher nicht. Dabei könnte man so viel damit machen.

Vorzeigebeispiele hab ich wie gesagt keine. Tipps zum Umsetzen schon eher, aber die setzen noch lange vor der Nutzung des Social Web an, um nachhaltig wirken zu können.

Dazu müsste ein Unternehmen zunächst mal verstehen, dass die Kommunikation kein Werbetool ist und damit auch keinesfalls dem Marketing untergeordnet. Es sollte vielmehr umgekehrt sein: Ein Unternehmen braucht ein Gesamt-Kommunikationskonzept, das nicht nur das Marketing einschließt, sondern auch die interne und externe Kommunikation, also Mitarbeiterkommunikation und Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Das Gesamtkonzept regelt, welche Ziele das Unternehmen hat und wofür es steht. Alle Maßnahmen müssen danach ausgerichtet werden. Nur so bleibt man glaubwürdig und nur so kann man wirklich nachhaltig arbeiten.

Was die Aktivitäten im Social Web angeht, so sollte klar sein, dass die Präsenzen dort zuerst der Ansprechbarkeit und dem Zuhören dienen. Wer seine Follower nur als Klickvieh behandelt, verhält sich toxisch. Wer seine Follower hingegen ernst nimmt, dem werden sie auch langfristig Vertrauen schenken und eher Kunde werden/bleiben. Natürlich kann man das auch mit Online-Werbung begleiten. Der Sinn des Social Webs ist aber nicht, kurzfristig Verkaufszahlen zu pushen, sondern der ursprüngliche Sinn ist das Gespräch von Menschen mit Menschen zwecks Teilen von Informationen. Es geht also um die Follower (und das ist qualitativ, nicht quantitativ gemeint), nicht um das, was das Unternehmen verkaufen will.

Was würdest Du noch hinzufügen?

Ich würde gerne an Deinen letzten Punkt anknüpfen. Du sagtest, es geht um die Follower, also die Menschen hinter dem User-Namen. Und an diesen Menschen muss ein Unternehmen echtes Interesse haben. Nur dann wird es den Menschen auch achtsam zuhören.

Es gibt diesen Spruch “Es ist nicht die Aufgabe des Kunden zu wissen, was er will”. Ich finde, da steckt viel Wahres drin. Wer den Menschen in seinen Märkten aufmerksam zuhört, wird auch deren aktuelle Bedürfnisse erkennen und vor allem zukünftige Bedürfnisse antizipieren. Das ist für das eigene Unternehmen überlebensnotwendig. Wir kennen die Beispiele von Unternehmen wie Kodak & Co ja alle.

Und einen weiteren Aspekt möchte ich gerne hinzufügen: Was innen geschieht, ist außen spürbar. Das soll heißen, das Unternehmen gut daran tun, mit ihrem Interesse an Menschen bei den eigenen Mitarbeitenden zu beginnen. Wer als Mitarbeiter:in keine Aufmerksamkeit bekommt, wer von oben herab und nicht auf Augenhöhe behandelt wird, der wird auch Kunden nicht entsprechend begegnen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Unternehmen ihre ganze Kultur, ihre DNA überprüfen müssen. Spannend finde ich hier auch noch, dass die meisten Unternehmen immer noch in Silos organisiert sind. Vor allem das Wissen und die Kommunikation steckt in Silos fest und findet selten den Weg in andere Einheiten. Es fehlt völlig die notwendige Durchlässigkeit und Transparenz. Selbst wenn in einem Silo jemand den Kunden ernst nimmt und etwas über ihn weiß, wird dieses Wissen an anderen Stellen nicht vorhanden sein. Dabei geht die Customer Journey immer quer durch das ganze Unternehmen.

Einige Konzerne geben sich ja in letzter Zeit “volksnah”, indem der CEO persönlich twittert. Was hältst Du von dieser Entwicklung?

Annette Schwindt

Wenn er/sie das gut macht, warum nicht. Wenn es aber nur Pflichtübung ist und Verlängerung der Pressemeldungen, dann besser nicht. Aber wie viele Unternehmensführungen sind denn von sich aus webaffin, wenn sie nicht in dem Sektor tätig sind? Und selbst dann? Dass sie twittern ist nicht der Punkt, sondern wie sie es tun und ob sie den damit einhergehenden Kulturwandel verstanden haben.

In der Regel ist dies wohl nicht der Fall. Laut Gabriel Fehrenbach (Video von 2019) scheitern 80 Prozent der Veränderungen in Unternehmen! Weil nur Äußerlichkeiten nachgemacht werden, die zugrundeliegende Organisationsstruktur aber die alte bleibt. Diese Struktur ist einseitig von oben nach unten ausgerichtet. Und das ist Werbung auch. Beides verläuft nach dem Push-Prinzip, ist also Monolog.

Im Social Web geht es aber darum, selbst zu entscheiden, welche Informationen man sich wie herein holt und wie man dann damit in Austausch geht. Das kann ein Unternehmen aber nicht kontrollieren, also auch keine Messzahlen dazu voraussagen um diese dann abzuarbeiten oder gar zu übertreffen. Der Austausch selbst und das dadurch gewonnene Vertrauen werden nicht als relevante Werte an sich angesehen, da sie nicht unmittelbar zu Umsatz führen. Indirekt tun sie das aber doch und das nachhaltiger als eine Werbeanzeige das je könnte.

Zu Beginn der Pandemie hatte ich noch gehofft, dass es jetzt schneller zu einem Umdenken käme. Statt dessen soll weiter nur auf Konsum und Wachstum gesetzt werden. Am besten fasst das ein Cartoon zusammen, der die Dinosaurier in ihrem üblichen Trott zeigt. Nur einer schaut hoch, sieht den Meteor kommen und sagt „Oh shit! The economy!“

Manche Beobachter der Wirtschaft sagen voraus, dass die Unternehmen, die den Kulturwandel nicht schaffen, ohnehin untergehen. Der Rest ist jetzt entweder schon Vorreiter oder hat mit dem Wandel bereits begonnen. Was glaubst Du, wie es weitergehen wird?

Ich bin der festen Überzeugung, dass Unternehmen, die diesen Kulturwandel nicht hinbekommen auf lange Sicht keine Chance haben. Es ist erstaunlich, dass nach den letzten 20 Jahren und der disruptiven Entwicklung immer noch viele glauben, dass ihnen das nicht passieren kann. Dabei betrachten diese Unternehmen natürlich immer den Status quo und merken gar nicht, dass dieser ihr größter Feind ist. Kein Unternehmen, absolut keines ist “too big to fail”. Einige werden durch ihr “Quasi-Monopol” etwas länger durchhalten, aber aufgeschoben ist bekanntlich nicht aufgehoben.

Heute Nacht wurde im Bundestag beschlossen, dass typische Provider wie Mobilfunk, Energie, TV/Streaming, etc. kürzere Vertragslaufzeiten anbieten und die Kündigung erleichtern müssen. Das wird einigen weh tun, denn es gibt zu viel dieser Gefangenen, wie das FanPrinzip diese Kundengattung nennt. Ich erinnere mich noch gut an einen Vortrag vor einigen Jahren beim UX-Day in Mannheim. Da berichtete ein Vertreter einer sehr bekannten Datingplattform voller Stolz, wie geschickt sie in der App verhindern, dass der Kunde die Kündigungsoption findet. Unternehmen mit dieser Kultur werden definitiv sterben, denn, und hier schließt sich der Kreis zum Cluetrain Manifesto, alles wird transparent und niemand ist freiwillig Kunde bei einem Unternehmen, welches solche Methoden anwendet.

Wer wird es in die Zukunft schaffen? Das werden die Unternehmen sein, die eine gute Feedbackkultur etabliert haben. Auch hier beginnt es innen, also bei den Mitarbeitenden und ist natürlich bei den Kunden besonders wichtig. Es gibt diesen Begriff “Co Creation”, also den Kunden in die Produktentwicklung zu integrieren. Die Co Creation funktioniert aber nur wenn die Bereitschaft dazu vorhanden ist, das Feedback und den Kunden wertzuschätzen.

Es ist noch ein weiter Weg dorthin. Leicht zu erkennen auch durch Begrifflichkeiten, die im Kommunikationsalltag etabliert sind. Kundenzufriedenheit, Kundenbindung, Pressemitteilung – alles Relikte aus dem letzten Jahrtausend. Ich möchte nicht nur zufriedenen Kunden. Zufrieden ist Schulnote 3. Soll das der Anspruch an eine Beziehung sein, die für das Unternehmen elementar wichtig ist?

Mitarbeiter- und Kundenbindung. Furchtbar. Die werden also gefesselt, damit sie bleiben. Was für ein schräges Bild. Als Unternehmen muss ich so attraktiv sein, dass ich magnetisch bin, die Menschen anziehe. Und die Pressemitteilung. Du hast es ja auch schon gesagt, die gibt es immer noch und wird über Facebook & Co verteilt. Das liest doch aber nicht nur die Presse. Für die ist es aber formuliert und bei den Menschen draußen kommt nur Bla Bla an.

Was glaubst Du, braucht es für einen echten Wandel in der Kommunikation? Die Menschen in den entscheidenden Positionen sind ja erst mal die gleichen. Wie müssen sich diese verändern und vor allem wie können sie lernen, was sie verändern müssen?

Annette Schwindt

Ich denke, da ist ein gesamtgesellschaftlicher Wandel im Gange. Wir wurden früher so auf Schneller, Höher, Weiter getrimmt, dass Transparenz und  Authentizität bislang das Gegenteil von dem waren, was als erstrebenswert postuliert wurde. Vielmehr sollte man sich möglichst groß und wichtig machen und vor allem lauter sein als die Konkurrenz. Ellbogengesellschaft eben. Das hat uns in mehr als einer Hinsicht in die Krise getrieben. Wir sind jetzt an einem Wendepunkt, denn wir sehen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Das müssen jetzt nur noch alle begreifen. Ob wir das noch rechtzeitig hinkriegen, weiß ich nicht, aber wir müssen es versuchen.

Dummerweise verändern sich viele Menschen nur, wenn sie müssen. Manche aber auch durch Vorbilder und Einsicht. Das bedeutet, diejenigen, die es schon verstanden haben, sollten nicht nur mit gutem Beispiel voran gehen, sondern auch über ihre Arbeitsweise informieren, entsprechend aus- und weiterbilden und auch politisch darauf hinwirken, dass bestimmte Standards in eine neue Wirtschaftsethik Eingang finden.

Dazu müsste es aber auch erst mal eine Partei geben, die wirklich versteht, worum es geht. Bisher halten alle schier religiös an alten Prinzipien fest, selbst wenn sie neuen Lack drübersprühen. Wie groß die Angst allein schon vor der Möglichkeit einer Veränderung ist, sieht man ja gerade am panischen Verhalten der alten Männer angesichts der „Bedrohung“ durch eine jüngere weibliche Alternative… Das ist nur noch erbärmlich, egal was man sonst von der Kandidatin halten mag.

Vielleicht braucht es weitere Bewegungen wie Fridays for Future? Wie könnten die aussehen?

Der Bedarf an weiteren Bewegungen, die wahrnehmbar auf Probleme aufmerksam machen ist definitiv gegeben, denn wie Du sagst, wir brauchen zwingend einen Wandel.

Hier schließt sich der Kreis zum Cluetrain Manifest. These #89 beginnt mit “Wir haben echte Macht – und das wissen wir auch.” Leider haben wir den zweiten Teil des Satzes vergessen. Denn wir schenken dem Geschrei, und dem von Dir angesprochenen panischem Verhalten der alten Männer, viel zu viel Beachtung. Das Geschäftsmodell basiert auf Klicks und wir haben die Macht diese Klicks zu verweigern. Stattdessen geben wir diesen schädlichen Inhalte durch unsere Empörung noch mehr Reichweite.

Ich würde mir eine Bewegung wünschen die konsequent nur noch gute, positive, konstruktive und nützliche Inhalte teilt und dem ganzen Mist da draußen keine Sichtbarkeit mehr gibt.

In These #89 geht es weiter mit “Wenn ihr das Licht am Ende des Tunnels nicht erkennen könnt, dann wird sich schon jemand anderes finden, der besser zuhört, interessanter ist und mit dem es mehr Spaß macht, zu spielen.” Und genau darum geht es im übertragenen Sinne – mehr Spaß, Freude, Menschlichkeit, Solidarität und Miteinander. Also werden wir Unternehmen, politische Organisationen und den dort aktiven Menschen zuhören, ihnen Aufmerksamkeit schenken und mit ihnen spielen, wenn sie mit menschlicher Stimme, im Dialog und mit echtem Interesse mit uns kommunizieren.

Annette Schwindt

Das ist doch ein perfektes Schlusswort. Vielen Dank, dass Du Dir die Zeit für dieses Gespräch genommen hast, Oliver! Vielleicht können wir mit diesem Gespräch ja ein kleines Stück dazu beitragen, dass so eine Bewegung entsteht?

Das hoffe ich sehr, liebe Annette. Ich danke Dir für das wunderbare Gespräch.

Über meinen Gesprächspartner

Oliver Heim arbeitet in einem Karlsruher Softwareunternehmen und lebt mit Familie etwas nördlich der zweitgrößten Stadt Baden-Württembergs. Seine persönliche Leidenschaft gilt der Kundenbegeisterung. Er geht in seinem Blog der Frage nach, wie Kunden zu Fans und Unternehmen durch Transformationsprozesse kundenzentriert werden. Seine Neugier und das echte Interesse an Menschen, sowie die Faszination für Veränderungen in der Arbeitswelt sind dabei seine Antriebskraft.  Seine Vision: Eine Welt ohne Reklamationen. – oliver-heim.de

Foto von Oliver: Oliver Heim
Avatar von Annette: tutticonfetti

In meiner Rubrik „Bloggespräche“ unterhalte ich mich mit einem Gegenüber über ein frei gewähltes Thema wie in einem Mini-Briefwechsel. Wer auch mal so ein Gespräch mit mir führen möchte, findet alle nötigen Infos dazu unter https://www.annetteschwindt.de/bloggespraeche/ und kann sich von dort direkt bei mir melden.


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3 Antworten auf „Dialog vs. Marketing – Ein Bloggespräch mit Oliver Heim“

Ein sehr schönes Blog-Gespräch, und ich werde mir denke ich tatsächlich das Cluetrain-Manifesto nochmal wieder anschauen. 1999. Damals dachten viele noch, dass das Internet was ganz anderes werden würde …

Die positive Erfahrung mit KLM kann ich übrigens bestätigen. Deren Twitter-Support ist echt Spitze und hat uns schon mehrere Male echt weitergeholfen.

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