Mein „Königswinter-Syndrom“

Nachdem ich in Reaktion auf meinen letzten Blogbeitrag sehr gute Tipps bekommen habe, möchte ich noch etwas dokumentieren: Seit ich denken kann höre ich von anderen, dass ich so wahnsinnig schnell sei. Mir selbst kommt das überhaupt nicht so vor. Ich beeile mich auch nicht. Das ist meine für mich völlig normale Geschwindigkeit. Ein Freund hat dafür den Begriff „Rocket Woman“ für mich eingeführt. Mein Mann Thomas nennt es mein „Königswinter-Syndrom“.

Wenn ich anfange, mich mit etwas zu beschäftigen, dann denke ich ganz automatisch voraus und handle danach. Das passiert wie gesagt völlig automatisch, ist also keine Extra-Anstrengung. Nur ist meine Geschwindigkeit dabei offenbar schneller als das durchschnittlich der Fall ist. Früher dachte ich immer, ich hätte mich vielleicht missverständlich ausgedrückt oder sonst irgendwas falsch gemacht, wenn jemand nicht folgen konnte. Bis der Satz mit der Rocket Woman kam.

Daraus baute Thomas dann eine für mich visualiserbare Geschichte: Ich starte in Bonn mit jemandem in Richtung Süden. Wenn ich das nächste Mal stehenbleibe und mich umdrehe, stehe ich in Kapstadt – meine Begleitung ist in derselben Zeit aber nur bis zum nahe Bonn gelegenen Königswinter gekommen – und nun fragen wir uns beide verdutzt, wo der andere abgeblieben ist. Mein Begleiter ist im Kopf noch beim Start der Reise in Bonn, bei Rhein und Beethoven, während ich von Elefanten, Stachelschweinen und dem Meer rede. Der andere hat verständlicherweise keinen Schimmer, wie ich darauf komme. Er schaut sich ja grade Königswinter an. 🙂

Wenn ich jetzt also in eine Situation komme, wo ich etwas organisieren soll oder sonstwie mit anderen zusammenarbeiten, dann gebe ich ihm vorher eine „Annette-Gebrauchsanweisung“ mit dieser Geschichte. Ich bitte den anderen dann darum, er möge mich doch bitte im Auge behalten und noch vor München stoppen, falls ich zu schnell werde. Umgekehrt versuche ich darauf zu achten, nicht zu weit voraus zu kommunizieren, sondern das, was ich sage, der Geschwindigkeit des anderen anzupassen.

Einige werden das hier jetzt lesen und denken: Boah ist die arrogant! Hält sich für was Besseres! – Nein, tut sie nicht. Sie hat nur lange genug heftigst darunter gelitten, nicht zu verstehen, was in solchen Situationen passiert und immer gedacht, sie wäre von einem anderen Planeten als der Rest… Heute weiß ich: Mein Hirn ist einfach anders verdrahtet als das der meisten anderen und ich möchte gern versuchen, die dadurch entstehenden Inkompatibilitäten abzufangen. Wenn beide Seiten Bescheid wissen, klappt das in der Regel auch wirklich gut. Und manch einer freut sich umso mehr über die Aussicht auf die Elefanten! 😉

Außerdem habe ich damit auch gelernt zu erkennen, wann ich „ein totes Pferd reite“ (Danke für diese treffende Analogie, Peter!). Wenn ich heute merke, dass sich jemand partout nicht aus Königswinter weiterbewegen will, weil er darauf besteht, das wäre es schon gewesen, dann breche ich das Ganze ab und lasse ihm seinen Willen. Früher hätte ich mich aufgerieben, um ihn wenigstens noch bis Koblenz zu schleifen und dann furchtbar frustriert zu sein, dass er Kapstadt nie erreicht… Das kostet beide Seiten unnötig Energie. Also versuche ich heute, es gar nicht mehr so weit kommen zu lassen.

So hat jeder seinen Lernprozess im Leben zu absolvieren. Vielleicht hilft die Analogie vom Königswinter-Syndrom ja auch anderen Menschen im Autismusspektrum und deren Umfeld, ihr eigenes Inkompatibilitäts-Potential zu mindern?


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8 Antworten auf „Mein „Königswinter-Syndrom““

tja.
Zweischneidiges schwert, würde ich sagen:
Einerseits ein kinolebendiges Bild, connection lost zwischen Königswinter und Kapstadt. Es versucht, Unterschiede zu veranschaulichen, die für mich weniger mit Autismus zu tun haben, sondern eher mit Hochbegabung.
Ich leide ganz erheblich darunter, dass die ’normale‘ Welt ständig von mir Anpassung und Rücksicht erwartet – und mich dadurch in der Entfaltung meiner Möglichkeiten ganz erheblich ausbremst und behindert.
Sie wollen alle, dass ich Vollgas fahre – aber bitte sehr mit fest angezogener Handbremse, damit auch der letzte Dubel noch mitkommt und sich nicht benachteiligt fühlt.
Ich habe das satt, mich ständig verarmen und mir meine Fähigkeiten selbst amputieren zu müssen, nur damit die anderen nicht rumnölen.
Es ist eine Frage der Kommunikation vorab. Es geht halt für mich nicht einfach nur ‚Richtung Süden‘ – sondern es geht nach Kapstadt. Wenn Gegenüber sagt, ‚Nö, nur bis Königswinter‘ – dann ist es immer noch meine Entscheidung, ob ich mich der freundlichen, aber reiseunlustigen Gesellschaft zuliebe anpasse und ggf. zu Tode langweile – oder ob ich mir eine andere Reisebegleitung finde, mit der ich mich raketenmäßig bis Kapstadt voll austoben und Spaß haben darf.
Wie auch immer: Gute Reise!
😉

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